Jossel Rakover redet zu Gott

20. Dezember 2006

Jossel Rakovers Wendung zu Gott (Diogenes)In einer der Ruinen des Warschauer Ghettos ist zwischen Haufen verkohlter Steine und menschlichem Gebein das folgende Testament gefunden worden, in einer Flasche versteckt und verborgen, geschrieben in den letzten Stunden des Warschauer Ghettos von einem Juden names Jossel Rakover:

Warschau, den 28. April 1943

Ich, Jossel, der Sohn David Rakovers aus Tarnopol, ein Anhänger des Rabbi von Ger und Nachkomme der Gerechten, Gelehrten und Heiligen aus den Familien Rakover und Meisls, schreibe diese Zeilen, während die Häuser des Warschauer Ghettos in Flammen stehn und das Haus, in dem ich mich befinde, eins der letzten ist, das noch nicht brennt.

[ … ]

Mein Rabbi pflegte mir immer wieder die Geschichte von einem Juden zu erzählen, der mit Frau und Kind der spanischen Inquisition entkommen war und sich auf einem kleinen Boot über stürmische See zu einer steinigen Insel durchgeschlagen hatte. Da zuckte ein Blitz auf und erschlug die Frau. Da kam ein Sturmwind und wirbelte sein Kind ins Meer. Allein, elend, hinausgeworfen wie ein Stein, nackt und barfuß, vom Sturm gepeitscht, von Donnern und Blitzen geschreckt, die Haare zerzaust und die Hände zu Gott erhoben, ist der Jude seinen Weg weitergegangen auf die wüste Felseninsel und hat sich an Gott gewandt:

„Gott Israels“, sagte er, „ich bin hierher geflohen, daß ich Dir ungestört dienen kann: um Deine Gebote zu tun und Deinen Namen zu heiligen. Du aber tust alles, daß ich an Dich nicht glauben soll. Wenn Du aber meinen solltest, daß es Dir gelingen wird, mich mit diesen Versuchungen vom richtigen Weg abzubringen, ruf‘ ich Dir zu, mein Gott und Gott meiner Eltern, daß es Dir alles nicht helfen wird. Magst Du mich auch beleidigen, magst Du mich auch züchtigen, magst Du mir auch wegnehmen das Teuerste und Beste, das ich habe auf der Welt, und mich zu Tode peinigen – ich werde immer an Dich glauben. Ich werde Dich immer liebhaben, immer – Dir selbst zum Trotz!“

Und das sind auch meine letzten Worte an Dich, mein zorniger Gott: Es wird Dir gar nichts nützen! Du hast alles getan, daß ich an Dir irre werde, daß ich nicht an Dich glaube. Ich sterbe aber gerade so, wie ich gelebt habe, als unbeirrbar an Dich Glaubender.

Gelobt soll sein auf ewig der Gott der Toten, der Gott der Vergeltung, der Wahrheit und des Gerichts, der bald sein Gesicht wieder vor der Welt enthüllen wird und mit Seiner allmächtigen Stimme ihre Fundamente erschüttert.

Zvi Kolitz, aus: „Jossel Rakovers Wendung zu Gott“,
Diogenes 2004

••• Diese kleine jiddische Erzählung von gerade einmal 25 grosszügig bedruckten Seiten ist Jossel Rakovers letztes, intimes Gespräch mit Gott vor seinem Tod. Gedruckt wurde sie erstmals im September 1946 in „Die Jiddische Zeitung“ von Buenos Aires. Ihr Autor, Zvi Kolitz, war damals noch nicht ganz 27 Jahre alt, seine Familie bereits 1937 aus Litauen nach Palästina emigriert.

Der Bericht, das Flaschenpost-Testament, ist fiktiv. Die Idee beruht auf der wahren Geschichte einer polnischen Gemeinde. Dort hatte man die Chronologie des Untergangs schriftlich festgehalten und in Flaschen vergraben. Aber es waren nicht Jossel Rakovers letzte Worte an Gott, die dort vergraben wurden.

Das Manuskript nahm nach der Veröffentlichung ein Eigenleben an, schüttelte immer wieder seinen Autor ab und wurde in verschiedenen Übersetzungen anonym veröffentlicht – als authentisches Dokument.

Thomas Mann hat den Text im Radio gehört und rühmt ihn kurz vor seinem Tod in einem Brief wie eine heilige Schrift als „erschütterndes menschliches und religiöses Dokument“. Rudolf Krämer-Badoni schreibt Jossel Rakover, dessen Asche er in der Asche Warschaus vermutet, eine ergreifende Antwort: „Ich habe gerade Deinen Brief gelesen. – Wie groß muß Dein Gott sein, der solche Seelen in Menschen erweckt!“

Noch größer als dieses Echo ist jedoch der wütende Protest und Tumult, den danach die Briefe eines Herrn Kolitz – nicht aus dem Jenseits, sondern aus New York – auslösen, in denen er sich zur Urheberschaft bekennt und als normal sterblicher Autor zu erkennen gibt, der erstens lebt und zweitens nie in Warschau war. Das soll ihm nicht verziehen werden. Da könne ja jeder kommen! Da könne man ja gleich sagen, daß auch Auschwitz nur eine Erfindung sei…

(Paul Badde)

Doch „Jossel Rakovers Wendung zu Gott“ ist und bleibt, wie Thomas Mann den Text charakterisierte. Es ist ein Text, den man gelesen haben muss.

„Hester Ponim“ nennen manche die Zeit der Auslöschung – das verborgene Antlitz Gottes: Einen Augenblick nur hast Du Dein Antlitz von der Welt abgewandt, mein zorniger Gott, aber es wird Dir nichts nützen…

Ich bete jeden Morgen in der Synagoge mit einem sehr freundlichen Herrn. Er hat die „Aschenzeit“, wie Immanuel Weissglas sie nannte, überlebt. Er weiss zu genau, dass Auschwitz keine Erfindung ist. Heute ist er weit über achtzig, ein heller Geist in einem schwächer werdenden Körper. Das Gehen fällt ihm schwer, doch er kommt jeden Tag. Oft betet er vor. Sein Name ist Josef – auf Jiddisch Jossel. Heute hat er Geburtstag. Ich bin dankbar, ihn zu kennen.

Herzlichen Glückwunsch, Jossel.

Bereitsein war alles

19. Dezember 2006

Um mich vorzubereiten
auf die Belagerer
lernte ich
mein Herz immer kürzer halten

Das dauerte lange
Jetzt nach Jahren der Übung
versagt mein Herz
und ich sehe im Sterben das Land

als hätte nur ich
mich belagert
von innen
und hätte gesiegt:

Alles leer
Weit und breit
keine Sturmleitern
keine Feinde

Erich Fried, aus: „Als ich mich nach dir verzehrte“,
Wagenbach SALTO (1991)

••• Mein erstes Romanmanuskript „Der Libellenflügel“ lag – noch vor 1989 – lange beim Mitteldeutschen Verlag. In der DDR entschieden über Erscheinen oder Nichterscheinen eines Buches nicht nur die Verlage. Ganz abgesehen davon gab es genügend berechtigte Bedenken gegen eine Veröffentlichung, und ich bin froh, dass das Buch nie erschienen ist.

Irgendwann 1990 gab ich mir die ungeheure Blösse, das Manuskript bei Wagenbach persönlich vorbeizubringen, in deren Programm das Buch nicht einmal gepasst hätte, wenn es grosse Prosa gewesen wäre.

Es war schneller wieder bei mir zu Hause als ich selbst.

Einige Jahre später – „Das Alphabet des Juda Liva“ war inzwischen bei Ammann erschienen – war ich zur Feier des xten Bestehens des Wagenbach Verlages eingeladen. Der Verleger hielt eine Rede und berichtete stolz, man habe erfolgreich eine Klage gegen diverse Verlage der ehemaligen DDR angestrengt. Die Verlage hatten über Jahre zu viele Gestattungsexemplare gedruckt. Dabei handelte es sich um Lizenzausgaben westdeutscher Verlage, die ausschliesslich für den Verkauf in der DDR bestimmt waren. Die Lizenzen mussten in Devisen, also harter Währung, bezahlt werden; und entsprechend konnten nur Rechte für sehr begrenzte Auflagen erworben werden. Man klagte nun auf Schadenersatz in beträchtlicher Höhe. Das, so der Verleger, würde einige der betroffenen Verlage in wirtschaftliche Bedrängnis bringen. Aber der Gerechtigkeit sei so nun endlich Genüge getan.

Ich verliess die Veranstaltung, bevor die Rede zu Ende war. Ohne jene DDR-Verlage und das Engagement einzelner Lektoren dort und sicher auch ohne die schwarz gedruckten Exemplare hätte ich viele Bücher, die mir viel bedeuteten, nicht lesen können.

Nein, warm geworden bin ich mit Wagenbach nicht. Aber schöne Bücher machen sie, nach wie vor.

Postscriptum:

Ehrenpreis für Verleger Klaus Wagenbach

Der seit 1990 vom Hauptverband des Österreichischen Buchhandels vergebene „Ehrenpreis für Toleranz in Denken und Handeln“ geht in diesem Jahr an den Verleger Klaus Wagenbach. Die mit 7.200 Euro dotierte Auszeichnung wird wurde am 13. November 2006 im Rahmen der Buchwoche in Wien verliehen.

(gefunden als Meldung bei TourLiteratur)

Das falsche und wahre Grün

18. Dezember 2006

Du wartest nicht mehr auf mich mit dem billigen
Herzen der Uhr. Gleich, ob du das Grau
öffnest oder hältst: es bleiben dornige,
kahle Stunden, mit dem plötzlichen
Schlagen von Blättern auf den Scheiben deines
Fensters, hoch über zwei Wolkenstraßen.
Mir bleibt die Trägheit eines Lächelns,
der dunkle Himmel eines Kleides, der rostfarbne
Samt um deine Haare geschlungen
und gelöst auf den Schultern, und dies dein Gesicht
in kaum bewegtes Wasser versunken.

Schläge rauhgelber Blätter,
wie Vögel von Ruß. Andere Blätter
bersten nun die Zweige und schnellen schon los,
ineinander verschlungen: das falsche und wahre Grün
des April, jenes entfesselte Grinsen
des sichern Erblühns. Und du blühst nicht,
treibst keine Tage, noch Träume, die aus unserem
Jenseits steigen. Hast nicht mehr deine kindlichen
Augen, hast nicht mehr zarte Hände,
mein Gesicht zu suchen, das mir entflieht?
Es bleibt die Scheu, Verse zu schreiben
ins Tagebuch oder einen Schrei auszustoßen
ins Leere oder in das unbegreifliche Herz, das
mit seiner abschüssigen Zeit noch kämpft.

Salvatore Quasimodo,
Übertragung: Gianni Selvani

••• Die Biographien von Cesare Pavese und Salvatore Quasimodo haben manches gemeinsam. An entgegengesetzen Enden ihres Landes geboren, waren beide aufs engste Landschaft und Menschen ihrer heimatlichen Regionen verbunden: Pavese Piemont, Quasimodo Sizilien.

Während Pavese, als Einaudi-Lektor dem Duce-Regime missliebig geworden, in Brancaleone in Verbannung sass, entstanden Quasimodos sogenannte Resistenza-Gedichte. Seine Verse gingen von Mund zu Mund. Sein berühmtester Dreizeiler fand sich sogar an den Wänden von Gefängniszellen:

Und schon ist es Abend

Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde
getroffen von einem Sonnenstrahl:
und schon ist es Abend.

Beide machten sich einen Namen als Übersetzer von Werken der Weltliteratur ins Italienische, und beide nahmen schliesslich Lehraufträge als Literaturprofessoren an italienischen Hochschulen an.

Quasimodo allerdings vermochte seinem Leben eine glücklichere Wendung zu geben. Im Jahre 1959 erhielt der den Nobelpreis für Literatur und hinterliess eine Fülle immens starker Gedichte, als er 1968 in Neapel starb. Das zitierte Gedicht ist der Titeltext des 1959 erschienenen Bands „Il falso e vero verde“.

Drohung

17. Dezember 2006

Ich kann nicht allein schlafen.
Ich höre sein Lied.
Die Zehen laufen mir von selbst davon,
seinen Schritten nach.
Knospen sind mir ausgeschossen
aus den Brüsten.
Wenn du mich nicht verheiratest, Vater,
werde ich dir Schande machen.
Ich liege auf der Straße
und warte, daß er mich trifft.
Mein Schoß bellt nach ihm.
Ein Bein in einem,
das zweite im anderen Graben.
Mein Schoß trinkt die Straße,
auf der er davonging.

Anonym, aus: „Zigeunerlieder“
zusammengestellt von: Rade Uhlik und Branko Radicvic
Philipp Reclam jun. Leipzig 1977

••• Dieses Liebesgedicht ganz anderer Art als die bisher zitierten habe ich in einem alten DDR-Reclam-Bändchen gefunden. Die Lieder in dieser Sammlung wurden im Gebiet des heutigen Serbien wandernden Sängern und Sängerinnen vom Munde abgeschrieben.

Pferdestehlen, Gefängnisaufenthalte, Armut, Hunger und verwaiste Kinder – das sind die Themen, um die diese Lieder kreisen. Doch auch die Liebe kommt immer wieder zu ihrem Recht. Es gibt da wenig Romantik aber keinen Mangel an Leidenschaft.

Eine solch kräftige und dabei doch nicht weniger poetische Beschreibung körperlicher Sehnsucht nach dem Geliebten – zumal mit der Stimme einer Frau – findet sich selten.

bahnhof

16. Dezember 2006

grau grau graues durcheinander
von wo kein zug abfährt wo ein riesiger rabe
sich schwarz zwischen die schienen setzt
bahnhof das ist aller orte kältester nachts
schläft niemand

seht unsre gesichter vom laster zerfetzt und
wenn der bahnhof abfährt seht uns trinken
gefangenschaft trinken aus schmutzigem glas
trinken bis der teufel kommt sprechen
zu keinem und alternd noch immer uns wundern
über die gedanken des zerrauften haars

sommer winter jahrhunderte kommen vorüber
uns berühren sie nicht seht uns verweilen
im rauch der rasenden wartesäle einmal
weinen ein paar mal lachen und lauschen
wenn vor dem fenster ein betrunkner
wie verrückt einen namen schreit.

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
S. Fischer Verlag (1979)

••• Der Süden meines gewesenen kleinen Landes war fruchtbar für Dichtung. Er ist es immer noch. Ich glaube sogar, diese Gegend hat einen ganz eigenen Ton hervorgebracht, dem man nachlauschen kann, wenn man Wolfgang Hilbig liest.

Als ich Mitte November 1989 meinen ersten Ausflug nach West-Berlin machte, gab es wenig angenehme Eindrücke. [Ich sollte ein anderes Mal mehr davon schreiben; doch nicht jetzt.] Aber ich kehrte mit zwei Büchern heim: Salman Rushdies „Satanischen Versen“ und dem Gedichtband „abwesenheit“ von Wolfgang Hilbig, der in der DDR verboten war. Zum ersten Mal gehört hatte ich von Hilbig in einer kalten Nacht auf dem Dresdner Hauptbahnhof.

bahnhof das ist aller orte kältester nachts
schläft niemand

Mit Undine Materni, die mir diese Verse auf dem Bahnsteig vorsagte, war ich oft und über vieles herzlich uneins. Nicht aber, was Hilbig betrifft. Wir standen staunend und in großer Bewunderung vor diesen Versen. Hilbig traf mit ihnen schmerzlich genau. Dass seine in „abwesenheit“ zusammengestellten, zwischen 1965 und 1977 entstandenen Gedichte in der DDR nicht erscheinen konnten, lag auf der Hand.

Seine Biographie versetzte mich in Angst und Schrecken: Erdbauarbeiter, Aussenmonteur, Abräumer in einer Ausflugsgaststätte und schliesslich Heizer. In den wenigen Monaten meines Nachtpförtnerdaseins habe ich mir oft genug ausgemalt, wie das mit mir werden soll, wenn es weiter mit der Anpassung hapert. Wenn ich weiter schreiben und unbedingt schreiben will, den „Mund voll Wind“, wie Hilbig es ausdrückte. Von solchen Aussichten träumt es sich nicht gut.

Ich hatte Glück. Mein Randstehen dauerte nur wenige Monate. Dann waren die Grenzen offen; und der Rest erledigte sich schnell. Ich hatte Glück und war – bei aller beunruhigenden Unsicherheit über die bevorstehende Zukunft – sehr erleichtert.

An Hilbigs „bahnhof“ musste ich an jenem Tag im November denken, als ich mich durch die Katakomben des Berliner S-Bahnhofs Friedrichstrasse drängte auf meinem Weg zur anderen Seite der Welt, die in Wirklichkeit nur die andere Seite des gleichen Bahnsteigs war. Und so ging ich in die nächste grössere Buchhandlung und kaufte mir mein Exemplar „abwesenheit“ und trug es nach Hause.