Wir heben Gräber in die Luft und siedeln
Mit Weib und Kind an dem gebotnen Ort.
Wir schaufeln fleißig, und die andern fiedeln,
Man schafft ein Grab und fährt im Tanzen fort.
Er will, daß über diese Därme dreister
Der Bogen strenge wie sein Antlitz streicht:
Spielt sanft vom Tod, er ist ein deutscher Meister,
Der durch die Lande als ein Nebel schleicht.
Und wenn die Dämmrung blutig quillt am Abend,
Öffn‘ ich nachzehrend den verbissnen Mund,
Ein Haus für alle in die Lüfte grabend:
Breit wie der Sarg, schmal wie die Todesstund.
Er spielt im Haus mit Schlangen, dräut und dichtet,
In Deutschland dämmert es wie Gretchens Haar.
Das Grab in Wolken wird nicht eng gerichtet:
Da weit der Tod ein deutscher Meister war.
Immanuel Weissglas (1920-1979)
••• Immanuel Weissglas war ein Schulfreund Paul Celans. Er gehört zum Phänomen der Dichtergruppe aus Czernowitz, die viele, bemerkenswerte jüdische Dichter hervorbrachte. Einen Band von ihm konnte ich bislang nicht auftreiben. Für sachdienliche Hinweise auf einen solchen wäre ich dankbar.
Eigentlich wollte ich heute an dieser Stelle über Celans „Todesfuge“ schreiben, über musikalische Mittel und Kompositionstechniken in der Dichtung. Das sei kurz aufgeschoben. Das Gedicht von Weissglas entstand vor der „Todesfuge“ und enthält viele der poetischen Bausteine, aus denen Celan vermutlich seine Fuge in Versen komponierte.
Ein Vergleich lohnt sich. (Stay tuned.)
Am 6. Dezember 2006 um 13:49 Uhr
Mit sachdienlichen Hinweisen könnte ich dienen. ;) Ich habe Dir die gesammelten Gedichte von Immanuel Weißglas bestellt.
Am 6. Dezember 2006 um 14:03 Uhr
Danke. Sehr lieb. Bin schon gespannt.
Am 20. Dezember 2006 um 00:26 Uhr
[…] Ich bete jeden Morgen in der Synagoge mit einem sehr freundlichen Herrn. Er hat die “Aschenzeit”, wie Immanuel Weissglas sie nannte, überlebt. Er weiss zu genau, dass Auschwitz keine Erfindung ist. Heute ist er weit über achtzig, ein heller Geist in einem schwächer werdenden Körper. Das Gehen fällt ihm schwer, doch er kommt jeden Tag. Oft betet er vor. Sein Name ist Josef – auf Jiddisch Jossel. Heute hat er Geburtstag. Ich bin dankbar, ihn zu kennen. […]
Am 30. Dezember 2006 um 21:16 Uhr
[…] So sehr ich mich über das Buch auch gefreut habe, die Gedichte selbst sind leider eine Enttäuschung. Überall scheint er allzusehr Gefangener der von ihm gewählten Formen zu sein. In dem hier zuvor zitierten Gedicht “ER” ist das ebenfalls spürbar. Doch er ist in diesem Gedicht in seinen Bildern noch am originellsten. Warum ausgerechnet dieses Gedicht nicht in die Sammlung aufgenommen wurde, ist mir ein Rätsel. […]
Am 27. März 2007 um 21:56 Uhr
„Immanuel Weissglas … Einen Band von ihm konnte ich bislang nicht auftreiben.“ – Ich sehe gerade, Aschenzeit ist vergriffen. Aber den Nobiskrug bekommt man noch über ZVAB für 81 €.
Übrigens gibt es auch einen schmalen Band seines Vater, Isak Weissglas. Vater Weissglas thematisiert hier seine eigene und die Deportation der Bukowiner Juden nach Transnistrien.
Am 4. September 2007 um 12:00 Uhr
Mein großformatiger Holzschnitt auf Leinwand zum Gedicht „Ahasver“ wurde das erstemal in meiner Ausstellung „Arche und Tod-Widerschein des Seins gezeigt.
Abbildung im Katalog des Museums Kornwestheim und auf meiner Seite unter Einladungskarte PDF Datei.
Habe Weissglas persönlich gekannt.
Gruß
Fabritius
Am 4. September 2007 um 12:43 Uhr
@Gert Fabritius: Hat er sich Ihnen gegenüber vielleicht einmal über Celan oder die Todesfuge geäussert? Das würde mich sehr interessieren.
Am 4. September 2007 um 19:41 Uhr
Zwischen 1970-1975 war ich am „Friedrich Schiller-Kulturhaus in Bukarest tätig. Damals, obwohl Zeichner und Maler, organisierte ich Lyriklesungen. Im Poesieclub lernte ich Alfred Kittner und I. Weissglas kennen.
Weissglas war sehr zurückgezogen, allerdings äusserte er sich zur Todesfuga in dem Sinne, wenn ich mich gut erinnere, dass der Begriff in Bukarest geprägt wurde.
Celan, so Weissglas, hat ihn bei der Flucht aus Bukarest hängen lassen.
Mit Gruß
Fabritius
Am 4. September 2007 um 20:35 Uhr
Das finde ich sehr interessant, zumal Leo Buck in seinem Nachwort zum Weissglas-Band „Aschenzeit“ es als eine bewusste Entscheidung von Weissglas darstellt, in Bukarest geblieben zu sein. – Es gibt wohl so viele Wahrheiten wie Erzählungen und Erzähler…
Am 21. September 2007 um 17:44 Uhr
Danke sehr! Der Vergleich lohnt sich auf jeden Fall, zumal unter Berücksichtigung der Tatsache (?), dass es vor der “Todesfuge” entstand!
Am 26. September 2008 um 21:12 Uhr
„Aschenzeit“ – Warum ausgerechnet dieses Gedicht [=“ER“] nicht in die Sammlung aufgenommen wurde, ist mir ein Rätsel. […]
Mir eigentlich gar nicht: Wenn man von der zurückhaltenden Persönlichkeit Immanuel Weißglas‘ weiß und den Hintergrund des tragischen Todes seines Jugendfreunds Paul Antschel Celan kennt, könnte man sich vorstellen, dass dies aus tiefer Betroffenheit unterlassen worden ist. Möglich wäre auch, dass eine ähnliche Intervention wie die Adornos i.S. Moses Rosenkeanz‘ „Blutfuge“ erfolgte (was aber NACH dem erfolgten Freitod Celans eher unwahrscheinlich erscheint).
Prof. Gutu (Univ. Bucuresti) hat hierzu aufschlussreiche Überlegungen angestellt.
Den Link hierzu – und andere – finden Sie auf meiner Seite.
Herzl. Grüße
AWT