Ich sah im Traum dich auf der Totenbahre

Dienstag, den 4. September 2007

Altar of Dis-Ease - © by ~ray00@deviantart.com (2003-2007)

Altar of Dis-Ease – © by ~ray00@deviantart.com (2003-2007)

Ich sah im Traum dich auf der Totenbahre.
Das Zimmer, wo du lagst, war blau erhellt.
Ich trat zu dir heran wie zum Altare,
auf den das Herz das letzte Opfer stellt.

Da lagst du streng und starr. Um deine Haare
bog sich der Schmetterling des Abendrots.
Ich streute blindlings meine jungen Jahre
wie Rosenblätter über deinen Tod.

Die Welt lag wesenlos um deine Hülle,
wie ein gedehnter Schatten um das Licht,
bis alles hinschwand. – Nur dein Angesicht

hing weiß wie eine Wolke in der Stille.
Dann schlug mein Leben beide Augen zu.
Kein Raum war, und kein Ich, kein Du. Nur Ruh.

Rose Ausländer
aus: „Der Regenbogen“ (Sonette), XI

••• An manche Träume erinnert man sich sehr lebendig noch nach Jahren. In gleich zwei solchen Träumen, die mich so aufgewühlt haben, dass ich sie wahrscheinlich nie vergessen werde, bin ich zum Mörder an geliebten Menschen geworden.


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Wie viele Schalen…

Montag, den 3. September 2007

Masks - © ~Stillight@deviantart.com

Masks – © ~Stillight@deviantart.com

Wie viele Schalen, Lieb, wie viele Schichten
umgeben deinen letzten Herzenskern?
Ich schau‘ dich an, doch deine Augen flüchten
und bleiben unerreichbar wie ein Stern.

Ich kann nicht mehr – ich will dein Bild vernichten
und nicht mehr wissen, daß du warst und bist?
O, komm mir nicht mit tausenden Gesichten!
Ich weiß, daß keines deine Seele ist.

Hinweg, hinweg? Erinnerungen binden
mein hörig Herz an deinen harten Schritt.
Ich geh‘ mit dir und kann dich doch nicht finden.

Ich folge dir auf Pfaden gleich Spiralen,
und zähle nicht die Qualen, die ich litt,
da ich den Kern nicht fand, nur Schalen, Schalen.

Rose Ausländer
aus: „Der Regenbogen“ (Sonette), X

••• Diese Ohnmacht, jemandem gegenüber zu stehen, den man liebt und zu wissen: was gesehen wird von diesem anderen, hat mit einem selbst kaum etwas zu tun. Auf der Projektionsleinwand verzerrte Spukgestalten, von Vermutungen entstellt, fremd, so weit entfernt vom Ich, das da angesehen wird. Und das Erschreckendste dabei: Mitunter ist man es selbst, der sich so gegenübersteht und doch nichts erkennt. „… nur Schalen, Schalen.“

Ich ging in dich hinein wie in ein Feld

Sonntag, den 2. September 2007

The Weed - © ~kelc@deviantart.com (2007)

The Weed – © ~kelc@deviantart.com (2007)

Ich ging in dich hinein wie in ein Feld
voll Sommerduft und reicher Ährenlast.
Ich baute mir in dir ein Garbenzelt
und wähnte mich in einem Goldpalast.

Die Tage flogen wild um unser Haus,
die Vögel zogen in uns ein und aus,
der blonde Weizen rieselte wie Wein
in unsern tiefen Kelch der Lust hinein.

So war mein Leben auf ein Tun gestellt:
Dein Herz umspannte meine ganze Welt,
und alle Fluren tanzten um mein Glück.

Da kamen Winde und verwirrten dich,
da kamen Falter und entführten dich,
und ließen mich im Stoppelfeld zurück.

Rose Ausländer
aus: „Der Regenbogen“ (Sonette), IX

••• Ich wollte wirklich kürzer treten mit den Sonetten. Aber man begegnet ihnen auf Schritt und Tritt. „Der Regenbogen“ ist ein Sonettenzyklus von Rose Ausländer, Gedichte an einen Geliebten. Sie haben mich gleich sehr berührt. Die direkte Ansprache ist mir sehr vertraut. Und es gelingen ihr immer wieder sehr starke Bilder, die sie konsequent ausgestaltet wie etwa hier die Feld-Metapher.

Drei der Sonette möchte ich in den nächsten Tagen vorstellen, jedes ein Meisterwerk und jedes mit dem gewissen Czernowitzer Klang, der mich auch bei Celan so gefangen nimmt.

Meine Tochter

Dienstag, den 30. Januar 2007

Daughter © 2005-2007 by greenknights

Meine Tochter zürnt mir
weil ich ihr nicht schenke
was sie sich wünscht
Mond und Sterne

Ich biete ihr Sonnenstrahlen an
nein sagt sie
die Sonne mag ich nicht
ich kann ihr nicht ins Auge sehn

Ich erzähle ihr das Märchen
von Dornröschen
Gib mir
den Prinzen
er soll mich heiraten
befiehlt sie

Warte ein Weilchen
antworte ich
inzwischen erzähle ich dir Märchen
aus tausendundeiner Nacht

Dies ist die erste Nacht

Rose Ausländer, aus: „Regenwörter. Gedichte“,
© Philipp Reclam jun. Stuttgart 1994

••• Von „Tausendundeiner Nacht“ war die Rede; da fiel mir gleich wieder eines der Gedichte von Rose Ausländer ein, die ich in diesem liebevoll zusammengestellten Reclam-Heft zum ersten Mal gelesen habe.

Den Prinzen hat meine Tochter noch nicht von mir eingefordert. Sie ist erst vier. Einen Stern hätte sie schon gern. Sie zeigt ihn mir immer am Nachthimmel, wenn ich sie ins Bett bringe und wir durchs Fenster ins kleine Himmelsquadrat des Hinterhofs schauen können.

Sie hat sich auch drei Lehrerinnen gewünscht. Sie müssten in unterschiedlichen Schulen sein und verschiedene Frisuren haben. Bei der einen möchte sie tanzen lernen, bei der zweiten Musik. Bei der dritten erst lesen und schreiben. In dieser Reihenfolge.

Ich muss ihr wohl noch mehr vorlesen

Denn

Mittwoch, den 13. Dezember 2006

Denn
ich hab dir
nichts versprochen
nur den Docht für die Lampe
und das Kännchen Öl
für gedämpftes Licht
auf dem Tisch
mit den Blutflecken

Den Teppich
kann ich nicht weben
mit diesen Fäden aus Draht

Sag nicht „Gute Nacht“
die Nacht ist nicht gut
die fremde vergeßliche Nacht

Rose Ausländer, aus: „Regenwörter. Gedichte“,
© Philipp Reclam jun. Stuttgart 1994

••• Ich habe Immanuel Weissglas erwähnt und Paul Celan. Zu den Czernowitzern gehört noch eine andere grosse Dichterin: Rose Ausländer. Sie verliess die Stadt mehrfach und kehrte mehrfach zurück. Zum ersten Mal führte ihr Weg sie 1916 nach Wien. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte sie zurück, um nach dem Tod ihres Vaters 1920 der Not gehorchend zu Verwandten in den kleinen Ort Winona im Mittelwesten der USA zu übersiedeln.

Den sanften Namen Winona
verdankst du der Legende vom schönen Indianermädchen
das sich vom Felsen stürzte
aus verschmähter Liebe

1931 kam sie nach einer gescheiterten Ehe erneut nach Czernowitz und überlebte – anders als 90% der 55.000 Juden ihrer Heimatstadt – die Shoah.

Wie Celan kämpfte auch sie mit den unbeantwortbaren Fragen der Überlebenden. Die Dichtung war ihr Überlebenselixier. Aus einem Werk von 2500 Gedichten hat Helmut Braun 1993 für Reclam eine Sammlung von 100 Gedichten zusammengestellt. Vielleicht hat sie nicht die poetische Kraft Celans. [Höre ich Aufschreie?] Statt Rafinesse im Umgang mit der Form gibt sie einem klaren, nüchternen Ausdruck den Vorzug.

Viele ihrer Gedichte erreichen mich nicht. Das will ich gar nicht leugnen. Aber allein in diesem Reclam-Bändchen steckt ein ganzes Bündel von Lesezeichen: Wegweiser zu Gedichten, zu denen man zurückkehrt, wieder und wieder.