meine freundin

15. Dezember 2006

meine freundin ist einsam wie ich. wir stammen
von vätern und müttern zu vielen, wir stammen
von männern, die einander nicht grüßen, hell
ihre schläfen, hoch und sich fremd. meine
ihre schläfen, hoch und sich fremd. meinefreundin
liebt weiße lilien zum tag, die tragen wir nicht zu den
gräbern hinaus, die blühen an unseren augapfelpaaren,
als schlieren zu treiben darauf. und niemals / niemals sich
als schlieren zu treiblösen. unser blick ist von lilien verstellt

Ulrike Almut Sandig, aus: „Sinn und Form“ 5/2006

••• Ulrike Almut Sandig hätte ich früher entdecken können. Habe ich aber nicht, weil wohl mein Blick zu oft rückwärts gewandt ist.

Ulrike Almut Sandig, 1979 in Großenhain geboren, schloss nach längeren Aufenthalten in Frankreich und Indien ein Studium der Religionswissenschaft und Indologie an der Universität Leipzig ab. Seit 2004 studiert sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und veröffentlicht in Zeitschriften und Anthologien. Sie ist Mitgründerin des Straßenliteraturprojektes augen::post (2001 – 2005), gemeinsam mit Marlen Pelny steht sie seit 2001 mit einem literarisch-musikalischen Programm auf der Bühne. Ihr Lyrik-Band „Zunder“ erschien 2005 in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung. Im Mai 2006 wurde sie mit dem Lyrikpreis Meran ausgezeichnet.

Dass ich nun doch auf die Gedichte dieser jungen Lyrikern gestossen bin, verdanke ich einer – man darf das schon so sagen – altehrwürdigen Freundin: „Sinn und Form“. Die Zeitschrift der Akademie der Künste erscheint 6x im Jahr, seit Jahrzehnten in unverändert nüchternem Outfit. 58. Jahrgang steht heute auf dem Cover. Doch staubig ist höchstens die äussere Anmutung des Heftes. Für mich sind es auch und besonders die Veröffentlichungen neuer deutscher Lyrik, die das Heft immer wieder zu einer spannenden Lektüre machen, wenn sie auch nur einen kleinen Teil der angebotenen Inhalte ausmachen.

Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten und einzigen Besuch in der Redaktion. Das war 1992. Ein Kapitel meines später bei Ammann erschienenen „Alphabet des Juda Liva“ sollte im Vorabdruck veröffentlicht werden. Ich hatte die Korrekturfahnen durchzusehen. Alles musste schnell gehen. Eine sehr resolute, für mein damaliges Verständnis reife Dame erwartete mich. Gern gelesen hätte sie das Stück Prosa, sagte sie. Aber: „Sie müssen noch viel lernen!“

Recht hatte sie, mache ich auch. Unter anderem dank „Sinn und Form“. Mit einer gehörigen Erweiterung des allgmeinen Bildungshorizonts muss immer gerechnet werden, wenn man eine „Sinn und Form“ zur Hand nimmt und zu stöbern beginnt.

König sein im eignen Reiche

14. Dezember 2006

Wie soll ich’s halten künftig?
Mir einen mächtigen Patron entdecken
Und als gemeines Schlinggewächs dem Schaft,
An dem ich aufwärts will, die Rinde lecken?
Durch List empor mich ranken, nicht durch Kraft?
Nein, niemals! Oder soll ich, wie so viele,
Ein Loblied singen auf gefüllte Taschen,
Soll eines Hofmanns Lächeln mir erhaschen,
Indem ich seinen Narren spiele?
Nein, niemals! Oder soll ich Kröten schlucken,
Auf allen vieren kriechen, gleich dem Vieh,
Durch Rutschen wund mir scheuern meine Knie,
Kreuzschmerzen leiden durch beständ’ges Ducken?
Nein, niemals! Soll ich einem Schäfchen gleichen,
Um selbst mir eins ins Trockene zu bringen?
Soll Honig streun, um Zucker einzustreichen?
Und unermüdlich Weihrauchfässer schwingen?
Niemals! Soll ich als lust’ger Zeitvertreiber
Nach großem Ruhm in kleinem Kreise spähn,
Damit sich von den Seufzern alter Weiber
Des Dichterschiffleins schlaffe Segel blähn?
Niemals! Für meine Verse dem Verleger,
Der sie mir druckt, bezahlen runde Summen?
Niemals! In der Verbrüderung der Dummen
Gefeiert werden als der Bannerträger?
Ein einziges Sonett wie ein Hausierer
Vorzeigen, statt noch andre zu verfassen?
Niemand talentvoll nennen als die Schmierer?
Vor jedem Literatenklatsch erblassen
Und eifrig forschen: Werd ich anerkannt?
Hat der und jener lobend mich genannt?
Niemals! Stets rechnen, stets Besorgnis zeigen,
Lieber Besuche machen als Gedichte,
Bittschriften schreiben, Hintertreppen steigen?
Nein, niemals, niemals, niemals! – Doch im Lichte
Der Freiheit schwärmen, durch die Wälder laufen,
Mit fester Stimme, klarem Falkenblick,
Den Schlapphut übermütig im Genick,
Und je nach Laune reimen oder raufen!
Nur singen, wenn Gesang im Herzen wohnt,
Nicht achtend Geld und Ruhm, mit flottem Schwunge
Arbeiten an der Reise nach dem Mond
Und insgeheim sich sagen: Lieber Junge,
Freu dich an Blumen, Früchten, selbst an Blättern,
Die du von deinem eignen Beet gepflückt!
Wenn dann vielleicht bescheidner Sieg dir glückt,
Dann mußt du nicht ihn teilen mit den Vettern;
Dann darfst du König sein in deinem Reiche,
Statt zu schmarotzen, und dein Schicksal sei,
Wenn du der Buche nachstehst und der Eiche,
Nicht hoch zu wachsen, aber schlank und frei.

Edmond Rostand, aus: „Cyrano de Bergerac“ (1897)
Übersetzung: Ludwig Fulda
Phillip Reclam jun. Stuttgart 1997

Welch Credo für einen Dichter! – Die Entdeckung dieses poetischen Juwels verdanke ich der Filmindustrie. Die sehr textnahe Verfilmung des Stückes mit Gerard Depardieu in der Titelrolle ist unbedingt sehenswert. Das Stück selbst auch zu lesen, ist nicht weniger zu empfehlen. Man muss sein Handwerk schon so virtuos beherrschen wie Edmond Rostand, um in einem Versdrama durchgängig mit so federhafter Leichtigkeit zu Werke gehen zu können.

Die „Reise zum Mond“ bezieht sich übrigens auf den gleichnamigen satirisch-utopischen Roman, den der historische Cyrano de Bergerac um 1648 schrieb. Andere tatkräftige Träumer wie Jonathan Swift und die Gebrüder Montgolfier wurden durch dieses Buch beeinflusst.

Die neuen naturwissenschaftlichen, insbesondere astronomischen Erkenntnisse der Zeit hat Cyrano verarbeitet und an der Unzulänglichkeit der Menschennatur und am Zusammenleben der Menschen mit tiefem Pessimismus Kritik geübt. Bereits auf dem Monde trifft Cyrano auf eine utopische bessere Welt; die Vollendung, in der die Natur volle Beseelung erreicht und die Gebundenheit an die Materie überwunden wird, findet er im ewigen Lichte der Sonnenstaaten.

[Ralf Steyer, aus dem Nachwort zur o. g. Ausgabe]

Zu Lebzeiten hielt seine Bekanntheit sich in Grenzen. Bevor Rostand ihn mit seinem Stück unsterblich machte, waren seine Schriften fast vergessen. Ein Holzbalken hatte ihn auf der Gasse getroffen. Viele Monate siechte Cyrano im Bett, bevor er 1655 – mit gerade einmal 36 Jahren – als verarmter Edelmann starb.

Denn

13. Dezember 2006

Denn
ich hab dir
nichts versprochen
nur den Docht für die Lampe
und das Kännchen Öl
für gedämpftes Licht
auf dem Tisch
mit den Blutflecken

Den Teppich
kann ich nicht weben
mit diesen Fäden aus Draht

Sag nicht „Gute Nacht“
die Nacht ist nicht gut
die fremde vergeßliche Nacht

Rose Ausländer, aus: „Regenwörter. Gedichte“,
© Philipp Reclam jun. Stuttgart 1994

••• Ich habe Immanuel Weissglas erwähnt und Paul Celan. Zu den Czernowitzern gehört noch eine andere grosse Dichterin: Rose Ausländer. Sie verliess die Stadt mehrfach und kehrte mehrfach zurück. Zum ersten Mal führte ihr Weg sie 1916 nach Wien. Nach dem Ersten Weltkrieg kehrte sie zurück, um nach dem Tod ihres Vaters 1920 der Not gehorchend zu Verwandten in den kleinen Ort Winona im Mittelwesten der USA zu übersiedeln.

Den sanften Namen Winona
verdankst du der Legende vom schönen Indianermädchen
das sich vom Felsen stürzte
aus verschmähter Liebe

1931 kam sie nach einer gescheiterten Ehe erneut nach Czernowitz und überlebte – anders als 90% der 55.000 Juden ihrer Heimatstadt – die Shoah.

Wie Celan kämpfte auch sie mit den unbeantwortbaren Fragen der Überlebenden. Die Dichtung war ihr Überlebenselixier. Aus einem Werk von 2500 Gedichten hat Helmut Braun 1993 für Reclam eine Sammlung von 100 Gedichten zusammengestellt. Vielleicht hat sie nicht die poetische Kraft Celans. [Höre ich Aufschreie?] Statt Rafinesse im Umgang mit der Form gibt sie einem klaren, nüchternen Ausdruck den Vorzug.

Viele ihrer Gedichte erreichen mich nicht. Das will ich gar nicht leugnen. Aber allein in diesem Reclam-Bändchen steckt ein ganzes Bündel von Lesezeichen: Wegweiser zu Gedichten, zu denen man zurückkehrt, wieder und wieder.

Erklär mir, Liebe

12. Dezember 2006

Dein Hut lüftet sich leis; grüßt, schwebt im Wind,
dein unbedeckter Kopf hat’s Wolken angetan,
dein Herz hat anderswo zu tun,
dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein,
das Zittergras im Land nimmt überhand,
Sternblumen bläst der Sommer an und aus,
von Flocken blind erhebst du dein Gesicht,
du lachst und weinst und gehst an dir zugrund,
was soll dir noch geschehen –

Erklär mir, Liebe!

Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad,
die Taube stellt den Federkragen hoch,
vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft,
der Entrich schreit, vom wilden Honig nimmt
das ganze Land, auch im gesetzten Park
hat jedes Beet ein goldner Staub umsäumt.

Der Fisch errötet, überholt den Schwarm
und stürzt durch Grotten ins Korallenbett.
Zur Silbersandmusik tanzt scheu der Skorpion.
Der Käfer riecht die Herrlichste von weit;
hätt ich nur seinen Sinn, ich fühlte auch,
daß Flügel unter ihrem Panzer schimmern,
und nähm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch!

Erklär mir, Liebe!

Wasser weiß zu reden,
die Welle nimmt die Welle an der Hand,
im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt.
So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus!

Ein Stein weiß einen andern zu erweichen!

Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann:
sollt ich die kurze schauerliche Zeit
nur mit Gedanken Umgang haben und allein
nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun?
Muß einer denken? Wird er nicht vermißt?

Du sagst: es zählt ein andrer Geist auf ihn…
Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander
durch jedes Feuer gehen.
Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.

Ingeborg Bachmann (1926-1973)

••• Wenn wir bei Liebeslyrik sind, darf dieses Gedicht nicht fehlen. Das Wort Salamander ist für mich ganz durch dieses Gedicht geprägt. Und wo immer ich es verwende, schwingt Bachmanns Salamander aus „Erklär mir, Liebe“ mit.

Für Freunde des Werks von Ingeborg Bachmann sei an dieser Stelle auf eine beeindruckende Online-Kompilation ihres Werks hingewiesen. Das von Ricarda Berg gestaltete Ingeborg Bachmann Forum zu durchstöbern, erfordert Zeit! Soll keiner sagen, ich hätte nicht gewarnt.

Einst griffst du meinen Namen

11. Dezember 2006

Einst griffst du meinen Namen
Auf deiner Feuerharfe
Wo wir auch hintraten
Wuchs vierblättriger Klee

Wir schwiegen wie zwei Gärten zur Nacht
Vorm Flüstern der Quellen unsrer Herzen
Es gab nur Festtage in deinen Blicken
Unsre Hände waren voller Gebete

Die Vögel sangen nichts als Hymnen
So sehr liebten wir uns
Heute wein ich allein
Die heimatlosen Tiere

Schlafen im Sägmehl meiner Haare
Der Spiegel des Sees zersprang
Deine tausend nährenden Lächeln
Liegen auf seinem Grund

Umsonst such ich dich:
Du bist abgereist
Nach dem sechsten Kontinent
Und nahmst unsre Sonntage mit

Claire Goll (1901-1977)
aus: Poemes de la Vie et de la Mort (1927)

••• Irena Stasch hat sich die Mühe gemacht, eine Online-Anthologie deutschsprachiger Liebeslyrik zusammenzustellen. Derzeit umfasst die Sammlung über 3500 Gedichte von 124 Dichtern und Dichterinnen deutscher Sprache. Wenngleich auf deutsche Werke ausgerichtet, finden sich in Irina Staschs Online-Sammlung inzwischen auch Übersetzungen, etwa des „Hohelieds“. Liebeslyrik aus anderen Kulturkreisen und Sprachen stellt Frau Stasch in ihrem Online-Monatsmagazin „Das Liebes – Poetische – Manuskript“ vor.

Und was finde ich da auf den Deutsche-Dichterinnen-Seiten? Ein Gedicht von Claire Goll. Ein Büchlein mit Texten von Claire und Yvan Goll habe ich einmal in der Berliner S-Bahn verloren. Das Gedicht habe ich nicht vergessen.