30. Dezember 2006••• Meine Frau hat Wort gehalten. Unter den Überraschungen zu Chanukkah fand sich auch der vom Rimbaud-Verlag besorgte Band „Aschenzeit“ mit einem Querschnitt durch das poetische Werk von Immanuel Weissglas. [Der Verlag hält sich an die deutsche Schreibung mit ß.]
So sehr ich mich über das Buch auch gefreut habe, die Gedichte selbst sind leider eine Enttäuschung. Überall scheint er allzusehr Gefangener der von ihm gewählten Formen zu sein. In dem hier zuvor zitierten Gedicht „ER“ ist das ebenfalls spürbar. Doch er ist in diesem Gedicht in seinen Bildern noch am originellsten. Warum ausgerechnet dieses Gedicht nicht in die Sammlung aufgenommen wurde, ist mir ein Rätsel.
Unbedingt lesenswert ist das Nachwort „Eine leise Stimme“ von Leo Buck.
Diejenigen, die mit ihm [Weißglas] zu tun hatten, betonen übereinstimmend das unauffällige, zurückhaltende und bescheidene Auftreten dieses Mannes. Die Zurückgezogenheit gehörte offenbar zu seinem Lebensprogramm. Insofern kann es nicht wundernehmen, daß Weißglas seine Hauptleistung, die Versübertragung beider Teile der „Faust“-Dichtung Goethes [ins Rumänische], unter einem Pseudonym veröffentlichte. Ebenso tief bezeichnend sind kritische Vorbehalte und lebenslanges Zögern gegenüber der eigenen literarischen Arbeit. Das Frühwerk verwarf er gänzlich. Vielsagend schrieb er hierzu am 14. März 1974 (seinem 54. Geburtstag): „Das Wortwrack meiner Frühzeit möge ungeborgen bleiben“. Selbst den Weggang aus dem Leben hat Weißglas getreu seiner Maxime eines Daseins „in der weisen Einsiedelei“, konsequent vorbedacht. Während seiner langen Krankheit – er starb an einem Gehirntumor- verfügte er seine Einäscherung ohne jede Zeremonie sowie eine Form der Bestattung, die keine Spuren hinterläßt. Seine Asche wurde ins Schwarze Meer gestreut.
Seine Entscheidung, in Rumänien zu bleiben, als Paul Celan 1947 das Land verliess, spricht ebenfalls Bände. Der Celansche Anspruch „Und setze dich frei“ hatte offenbar für Weissglas keine Geltung. Dem Thema der frühen Freundschaft, die mit dem Weggang Celans endete, der Frage von Nähe und Distanz zwischen beiden widmet sich das Nachwort ebenfalls ausführlich.
Nein, poetische Entdeckungen gab es für mich in diesem Buch nicht. Aber immerhin verdanke ich dem Rimbaud-Band nun doch die Bekanntschaft mit einer ungewöhnlichen Biographie.
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29. Dezember 2006Der Himmel auf tönernen Füßen
Wir fahren darunter in kleinen Autos
Die Brücken
Fangen ihn ab eine Zeit lang
Wird er blau sein, Vögel
Und Nacht und Tag und manchmal
Ein Nordlicht in fremden Breiten
Einer wird, in verwirrenden Farben, ihn sehn
Wenn ihm gut oder nicht ist und der Mond und die Sonne
Hineingeschossene Löcher
Werden kühlen wärmen bis dann
Die letzte Stunde gekommen ist
Und die Engel mit eiskalten Augen
Die großen Blätter auf denen Geschichte verzeichnet ist
Einrollen ein neues
Licht anzünden
Sarah Kirsch, aus: „Landaufenthalt“
zu finden in: „Sämtliche Gedichte“
Deutsche Verlags-Anstalt 2005
••• August 1977: Ich fieberte meinem ersten Schultag entgegen. Da verliess Sarah Kirsch mein kleines Land. Ich wusste nichts von ihr.
Erst sieben oder acht Jahre später – Sarah Kirsch hatte gerade den Friedrich-Hölderlin-Preis erhalten und lebte unterdessen in Schleswig-Holstein – raunte Undine Materni mir zu: „Sarah Kirsch ist sowieso die Grösste…“
Ob sie sich daran noch erinnert? Die Grössenverhältnisse wechseln ja mitunter im Laufe der Zeit. – Wie dem auch sei: Ich war damals für diese Gedichte zu jung und habe sie erst viel später für mich entdeckt.
Von der DVA gibt es seit letztem Jahr eine – vorläufige! – Gesamtausgabe der Gedichte von Sarah Kirsch. Beim Blättern sind mir noch zwei andere Texte wiederbegegnet. (Stay tuned!)
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28. Dezember 2006Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.
Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:
dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen…
Rainer-Maria Rilke (21. 9. 1902, Paris)
aus: „Die Gedichte“, Insel Verlag 1998
••• Wie wir vom Klappentext der „Gilgamesh“-Neuübertragung erfahren haben, war das Epos auch für Rilke eine grosse Inspiration. Da der Name gefallen ist, hier ein weiteres meiner Lieblingsgedichte.
Diese Entdeckung verdanke ich einer Bildhauerin: Leonie Wirth. Die Wasserspiele in der Fussgängerzone der Dresdner Innenstadt wurden von ihr entworfen. Sie schrieb mir – ich glaube um 1987 – einen Leserbrief auf eine Gedichtveröffentlichung in einer Zeitung. Es entspann sich ein kurzer Briefwechsel um bildende Kunst und Literatur. Damals schrieb man noch Briefe. Ich habe sie auch besucht in ihrem Haus bei Dresden, ein Haus voller Katzen und grossen Plastiken aus Glas und Stahl. Man konnte kaum glauben, wie diese zarte Person die gewaltigen Materialien überhaupt bewegen konnte.
Sie lebte sehr zurückgezogen. Ihr Haupt-Engagement – nach meinem Eindruck noch weit vor der Bildhauerei – galt dem Tierschutz. Das Gedicht schickte sie mir nach meinem Besuch. Danach habe ich nichts mehr von ihr gehört. Sie müsste jetzt um die 70 sein. Ich weiss nicht, was aus ihr geworden ist.
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27. Dezember 2006Der lauf der nacht war ein einziger traum
die himmel donnerten die erde warf ihr echo zurück
und da war ich stand dazwischen und noch jemand war da –
ich ahnte ihn mehr als daß ich ihn sah:
ich ahnte ihn mehr als daß ich ihn sah:Unheimlich war er
ein schwarzer schatten einer von denen keinerlei licht ausgeht
sie schleichen herum verstohlen und gebückt • von ihren klauen
tropft die bittere galle der nacht • nicht mann noch frau
sind sie hören auf kein gebet und keine bitte
sie sind kalt wie der ständig wehende wind kalt
wie der tod der die schale der dinge zerspringen läßt
und zu scherben zerbricht
und zu scherben zerbrichtDie gefolgsleute des todes sind sie
die söhne des sturmgottes und der königin der unterwelt
dem himmel entrissen und auf die erde geworfen
der giftige laich der götter kreaturen die man hoch oben
schreien hört und in der tiefe winseln
schreien hört und in der tiefe winselnÜber die dächer
kommen sie und kriechen über die häuser
keine tür vermag sie aufzuhalten kein schloß
sie kommen durch die ritzen wie schlangen durch die fugen
wie der frost
wie der frostSie holen sich die frauen aus den armen
des mannes und die kinder von den knien der mütter
und heften sich einem jeden lähmend auf die fersen
und heften sich einem jeden lähmend auf die fersenUnd dann
nahm der ghoul neben mir gestalt an • er glich dem donnervogel
Anzu – seine hände die tatzen eines löwen die fingernägel
die klauen eines adlers • damit griff er mich bei den haaren
Ich schlug auf ihn ein aber er wich meinen hieben aus
er drehte sich unter mir weg ich suchte ihn zu fassen
doch er kam über mich wie die staubigen winde
die sich über die ebenen drehen
die sich über die ebenen drehenUnd mit einem mal lag ich
am boden • er trat mir in die rippen und sein geifer
tropfte auf mich herab • ich schrie nach dir Gilgamesh
ich schrie um hilfe doch du konntest mich nicht retten
du warst wie gebannt
du warst wie gebanntEr schlug auf mich ein
plötzlich aber verwandelte ich mich in einen vogel –
er aber fesselte meine arme wie man flügel zusammenbindet
und stieß mich voran auf einen weg ohne rückkehr
durch die sieben ringmauern die die stadt Irkalla umgeben
Er führte mich ins haus des dunkels das keiner wieder verläßt
der seine schwelle einmal überschritten hat:
der seine schwelle einmal überschritten hat:In dieses haus
wo lehm unser brot ist und wir ein kleid von federn tragen
wie vögel – wo wir im dunkeln leben ohne je das licht
zu sehen
zu sehenDer staub lag dick wie je auf allen mauern
und das schweigen lastete unendlich schwer darauf
Als ich es zum ersten mal betrat da lagen wohin ich auch sah
kronen im staub kronen die man königen abgenommen hatte
Übertragung: Raoul Schrott
aus: Raoul Schrott: „Gilgamesh“
© Fischer Taschenbuch Verlag 2006
••• Man kann unmöglich von Raoul Schrott sprechen, ohne seine „Gilgamesh“-Übertragung zu erwähnen.
Ich gestehe es gern ein: Bevor mir eine Freundin kürzlich davon erzählte (1000 Dank, liebe Hanna!), war mir das Epos und also auch Schrotts Neuübertragung völlig unbekannt. Welch eine Lese-Lücke!
Raoul Schrotts „Gilgamesh“ ist eine wissenschaftliche Edition. Der rekonstruierte Textkörper wird wiedergegeben. Hinzu kommen eine Fülle von Ausführungen zur Geschichte, zur wahrscheinlichen Entstehung. Doch wie schon in seinem bereits erwähnten Buch „Die Erfindung der Poesie“ liegt für den Literatur-Begeisterten der eigentliche Reiz mehr in der kongenialen Nachdichtung. Schrotts „Gilgamesh“ ist unbedingt mehr als eine Übertragung; ohne seinen Nachdichter könnte dieses Werk kaum in solcher Kraft auf uns wirken.
„Gilgamesh“ ist das älteste sagenumwobene Epos der Menschheitsgeschichte. Für Rilke wie Canetti zählte die Geschichte von Kriegern, Städten und der Suche nach Unsterblichkeit zum „Größten“, was sie je gelesen hatten. Ohne Zweifel gehören die elf zerbrochenen Keilschrifttafeln, die das Epos fragmentarisch überliefern, zu den größten Rätselsteinen unserer Welt.
[vom Umschlagtext der zitierten Ausgabe]
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26. Dezember 2006Ehrlich • ich wollte ich wäre tot
sie hat geweint
als sie mich verließ und zu mir
sagte: wirklich ich wollte ich
wäre tot – wie ungern verlasse
ich dich Sappho!
Und ich sagte zu ihr: sei nicht
traurig du weißt ja wie sehr ich
wie sehr wir dich liebten • traurig
ist nur was man
vergißt und ich weiß ja daß du
alles vergißt was man dir sagt
drum laß dich daran erinnern
wie es war als du
hier bei uns warst: weißt du
noch die kränze aus veilchen rosen
und krokus und jene
aus anis und dill?
Wie wir uns girlanden aus ginster
und gras flochten und sie uns
um den hals legten und wie sie
dich stachen?
Wie viele salben hast du immer
gebraucht – brentho und basileion
für deine haut damit sie glatt würde
wie für einen könig!
Was warst du doch für ein kindskopf
schliefst lang in den tag hinein und
träumtest von wasweißichwas –
wußte ich wem?
Bei keinem einzigen tanz aber hast
du gefehlt keinem einzigen opfer
keinem einzigen trank und es gab
keinen hain
wo wir uns nicht den frühling holten
und ihn mit unseren liedern wieder
vertrieben – du hast ja auch damals
meist falsch gesungen!
Wirklich ich wollte ich wäre tot ich
habe dich weinen gesehen als du fort
von uns gingst und ich nichts richtig
zu sagen vermochte
Sappho, Übertragung: Raoul Schrott
aus: Raoul Schrott: „Die Erfindung der Poesie.
Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“
© dtv 1999
••• Noch eine Sappho-Übertragung aus dem gestern erwähnten Band.
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