Archiv der Kategorie 'Lyrik'

h. selbst-portrait von hinten

Freitag, den 22. Dezember 2006

die hand im haar so hockt er
ruhlos am tisch
und ahnt nicht daß die herbstnacht
die luft an seinem nacken dunkel färbt
er sitzt auf dem sprung er sagt ich bin
solitair
solitairund müde bin ich mir selbst
entflohn (so hockt er am tisch der fremde
wenn ich allein im zimmer bin

(man sieht nicht sein gesicht
was wartet er gekrümmt zur kralle
harrt er des blauen hauchs der ihn belebte
dem mondeslicht das schwächer in die kalten
haine hängt
haine hängtdie tage gingen schnell
glaubt er davonzufahren auf dem stuhl
längst hält ein herbst mit kaltem haar
sein hastiges gebein verhangen

er schwimmt in hundert jahren schlaf
er ahnt nicht daß er selber herbstet
vergangen ist was er vergaß
(der herbst steht kopf der herbst verhöhnt ihn
er merkt es nicht er merkt nicht daß sein atemhecheln
dem atemlosen fehlt der händeringend
ruhlos durch die haine rennt und der
so oft ihn rief
(verkrallt hockt seine hand im haar
das nicht mehr mit ihm denken will

zum schreien seltsam trüben draußen
die sterne die nacht ein

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
© S. Fischer Verlag (1979)

••• Noch einmal Wolfgang Hilbig. Seine „abwesenheit“ steckt voller intensiver Texte. Doch das „selbst-portrait“ hat einen ganz besonderen Reiz. Man liest es kaum wie einen Text. Man schaut es eher an wie ein Bild, das jedoch erst auf der Imaginationsleinwand an Kontur gewinnt, wenn die Worte ganz in uns eingedrungen sind.

Das ist eine der Grenzberührungen zwischen den Künsten, wie sie mir immer vorschwebt. Wie Celan an die Tür der Musik klopft, tritt Hilbig hier bei der Malerei über die Schwelle.

Bereitsein war alles

Dienstag, den 19. Dezember 2006

Um mich vorzubereiten
auf die Belagerer
lernte ich
mein Herz immer kürzer halten

Das dauerte lange
Jetzt nach Jahren der Übung
versagt mein Herz
und ich sehe im Sterben das Land

als hätte nur ich
mich belagert
von innen
und hätte gesiegt:

Alles leer
Weit und breit
keine Sturmleitern
keine Feinde

Erich Fried, aus: „Als ich mich nach dir verzehrte“,
Wagenbach SALTO (1991)

••• Mein erstes Romanmanuskript „Der Libellenflügel“ lag – noch vor 1989 – lange beim Mitteldeutschen Verlag. In der DDR entschieden über Erscheinen oder Nichterscheinen eines Buches nicht nur die Verlage. Ganz abgesehen davon gab es genügend berechtigte Bedenken gegen eine Veröffentlichung, und ich bin froh, dass das Buch nie erschienen ist.

Irgendwann 1990 gab ich mir die ungeheure Blösse, das Manuskript bei Wagenbach persönlich vorbeizubringen, in deren Programm das Buch nicht einmal gepasst hätte, wenn es grosse Prosa gewesen wäre.

Es war schneller wieder bei mir zu Hause als ich selbst.

Einige Jahre später – „Das Alphabet des Juda Liva“ war inzwischen bei Ammann erschienen – war ich zur Feier des xten Bestehens des Wagenbach Verlages eingeladen. Der Verleger hielt eine Rede und berichtete stolz, man habe erfolgreich eine Klage gegen diverse Verlage der ehemaligen DDR angestrengt. Die Verlage hatten über Jahre zu viele Gestattungsexemplare gedruckt. Dabei handelte es sich um Lizenzausgaben westdeutscher Verlage, die ausschliesslich für den Verkauf in der DDR bestimmt waren. Die Lizenzen mussten in Devisen, also harter Währung, bezahlt werden; und entsprechend konnten nur Rechte für sehr begrenzte Auflagen erworben werden. Man klagte nun auf Schadenersatz in beträchtlicher Höhe. Das, so der Verleger, würde einige der betroffenen Verlage in wirtschaftliche Bedrängnis bringen. Aber der Gerechtigkeit sei so nun endlich Genüge getan.

Ich verliess die Veranstaltung, bevor die Rede zu Ende war. Ohne jene DDR-Verlage und das Engagement einzelner Lektoren dort und sicher auch ohne die schwarz gedruckten Exemplare hätte ich viele Bücher, die mir viel bedeuteten, nicht lesen können.

Nein, warm geworden bin ich mit Wagenbach nicht. Aber schöne Bücher machen sie, nach wie vor.

Postscriptum:

Ehrenpreis für Verleger Klaus Wagenbach

Der seit 1990 vom Hauptverband des Österreichischen Buchhandels vergebene „Ehrenpreis für Toleranz in Denken und Handeln“ geht in diesem Jahr an den Verleger Klaus Wagenbach. Die mit 7.200 Euro dotierte Auszeichnung wird wurde am 13. November 2006 im Rahmen der Buchwoche in Wien verliehen.

(gefunden als Meldung bei TourLiteratur)

Das falsche und wahre Grün

Montag, den 18. Dezember 2006

Du wartest nicht mehr auf mich mit dem billigen
Herzen der Uhr. Gleich, ob du das Grau
öffnest oder hältst: es bleiben dornige,
kahle Stunden, mit dem plötzlichen
Schlagen von Blättern auf den Scheiben deines
Fensters, hoch über zwei Wolkenstraßen.
Mir bleibt die Trägheit eines Lächelns,
der dunkle Himmel eines Kleides, der rostfarbne
Samt um deine Haare geschlungen
und gelöst auf den Schultern, und dies dein Gesicht
in kaum bewegtes Wasser versunken.

Schläge rauhgelber Blätter,
wie Vögel von Ruß. Andere Blätter
bersten nun die Zweige und schnellen schon los,
ineinander verschlungen: das falsche und wahre Grün
des April, jenes entfesselte Grinsen
des sichern Erblühns. Und du blühst nicht,
treibst keine Tage, noch Träume, die aus unserem
Jenseits steigen. Hast nicht mehr deine kindlichen
Augen, hast nicht mehr zarte Hände,
mein Gesicht zu suchen, das mir entflieht?
Es bleibt die Scheu, Verse zu schreiben
ins Tagebuch oder einen Schrei auszustoßen
ins Leere oder in das unbegreifliche Herz, das
mit seiner abschüssigen Zeit noch kämpft.

Salvatore Quasimodo,
Übertragung: Gianni Selvani

••• Die Biographien von Cesare Pavese und Salvatore Quasimodo haben manches gemeinsam. An entgegengesetzen Enden ihres Landes geboren, waren beide aufs engste Landschaft und Menschen ihrer heimatlichen Regionen verbunden: Pavese Piemont, Quasimodo Sizilien.

Während Pavese, als Einaudi-Lektor dem Duce-Regime missliebig geworden, in Brancaleone in Verbannung sass, entstanden Quasimodos sogenannte Resistenza-Gedichte. Seine Verse gingen von Mund zu Mund. Sein berühmtester Dreizeiler fand sich sogar an den Wänden von Gefängniszellen:

Und schon ist es Abend

Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde
getroffen von einem Sonnenstrahl:
und schon ist es Abend.

Beide machten sich einen Namen als Übersetzer von Werken der Weltliteratur ins Italienische, und beide nahmen schliesslich Lehraufträge als Literaturprofessoren an italienischen Hochschulen an.

Quasimodo allerdings vermochte seinem Leben eine glücklichere Wendung zu geben. Im Jahre 1959 erhielt der den Nobelpreis für Literatur und hinterliess eine Fülle immens starker Gedichte, als er 1968 in Neapel starb. Das zitierte Gedicht ist der Titeltext des 1959 erschienenen Bands „Il falso e vero verde“.

Drohung

Sonntag, den 17. Dezember 2006

Ich kann nicht allein schlafen.
Ich höre sein Lied.
Die Zehen laufen mir von selbst davon,
seinen Schritten nach.
Knospen sind mir ausgeschossen
aus den Brüsten.
Wenn du mich nicht verheiratest, Vater,
werde ich dir Schande machen.
Ich liege auf der Straße
und warte, daß er mich trifft.
Mein Schoß bellt nach ihm.
Ein Bein in einem,
das zweite im anderen Graben.
Mein Schoß trinkt die Straße,
auf der er davonging.

Anonym, aus: „Zigeunerlieder“
zusammengestellt von: Rade Uhlik und Branko Radicvic
Philipp Reclam jun. Leipzig 1977

••• Dieses Liebesgedicht ganz anderer Art als die bisher zitierten habe ich in einem alten DDR-Reclam-Bändchen gefunden. Die Lieder in dieser Sammlung wurden im Gebiet des heutigen Serbien wandernden Sängern und Sängerinnen vom Munde abgeschrieben.

Pferdestehlen, Gefängnisaufenthalte, Armut, Hunger und verwaiste Kinder – das sind die Themen, um die diese Lieder kreisen. Doch auch die Liebe kommt immer wieder zu ihrem Recht. Es gibt da wenig Romantik aber keinen Mangel an Leidenschaft.

Eine solch kräftige und dabei doch nicht weniger poetische Beschreibung körperlicher Sehnsucht nach dem Geliebten – zumal mit der Stimme einer Frau – findet sich selten.

bahnhof

Samstag, den 16. Dezember 2006

grau grau graues durcheinander
von wo kein zug abfährt wo ein riesiger rabe
sich schwarz zwischen die schienen setzt
bahnhof das ist aller orte kältester nachts
schläft niemand

seht unsre gesichter vom laster zerfetzt und
wenn der bahnhof abfährt seht uns trinken
gefangenschaft trinken aus schmutzigem glas
trinken bis der teufel kommt sprechen
zu keinem und alternd noch immer uns wundern
über die gedanken des zerrauften haars

sommer winter jahrhunderte kommen vorüber
uns berühren sie nicht seht uns verweilen
im rauch der rasenden wartesäle einmal
weinen ein paar mal lachen und lauschen
wenn vor dem fenster ein betrunkner
wie verrückt einen namen schreit.

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
S. Fischer Verlag (1979)

••• Der Süden meines gewesenen kleinen Landes war fruchtbar für Dichtung. Er ist es immer noch. Ich glaube sogar, diese Gegend hat einen ganz eigenen Ton hervorgebracht, dem man nachlauschen kann, wenn man Wolfgang Hilbig liest.

Als ich Mitte November 1989 meinen ersten Ausflug nach West-Berlin machte, gab es wenig angenehme Eindrücke. [Ich sollte ein anderes Mal mehr davon schreiben; doch nicht jetzt.] Aber ich kehrte mit zwei Büchern heim: Salman Rushdies „Satanischen Versen“ und dem Gedichtband „abwesenheit“ von Wolfgang Hilbig, der in der DDR verboten war. Zum ersten Mal gehört hatte ich von Hilbig in einer kalten Nacht auf dem Dresdner Hauptbahnhof.

bahnhof das ist aller orte kältester nachts
schläft niemand

Mit Undine Materni, die mir diese Verse auf dem Bahnsteig vorsagte, war ich oft und über vieles herzlich uneins. Nicht aber, was Hilbig betrifft. Wir standen staunend und in großer Bewunderung vor diesen Versen. Hilbig traf mit ihnen schmerzlich genau. Dass seine in „abwesenheit“ zusammengestellten, zwischen 1965 und 1977 entstandenen Gedichte in der DDR nicht erscheinen konnten, lag auf der Hand.

Seine Biographie versetzte mich in Angst und Schrecken: Erdbauarbeiter, Aussenmonteur, Abräumer in einer Ausflugsgaststätte und schliesslich Heizer. In den wenigen Monaten meines Nachtpförtnerdaseins habe ich mir oft genug ausgemalt, wie das mit mir werden soll, wenn es weiter mit der Anpassung hapert. Wenn ich weiter schreiben und unbedingt schreiben will, den „Mund voll Wind“, wie Hilbig es ausdrückte. Von solchen Aussichten träumt es sich nicht gut.

Ich hatte Glück. Mein Randstehen dauerte nur wenige Monate. Dann waren die Grenzen offen; und der Rest erledigte sich schnell. Ich hatte Glück und war – bei aller beunruhigenden Unsicherheit über die bevorstehende Zukunft – sehr erleichtert.

An Hilbigs „bahnhof“ musste ich an jenem Tag im November denken, als ich mich durch die Katakomben des Berliner S-Bahnhofs Friedrichstrasse drängte auf meinem Weg zur anderen Seite der Welt, die in Wirklichkeit nur die andere Seite des gleichen Bahnsteigs war. Und so ging ich in die nächste grössere Buchhandlung und kaufte mir mein Exemplar „abwesenheit“ und trug es nach Hause.