In einer der Ruinen des Warschauer Ghettos ist zwischen Haufen verkohlter Steine und menschlichem Gebein das folgende Testament gefunden worden, in einer Flasche versteckt und verborgen, geschrieben in den letzten Stunden des Warschauer Ghettos von einem Juden names Jossel Rakover:
Warschau, den 28. April 1943
Ich, Jossel, der Sohn David Rakovers aus Tarnopol, ein Anhänger des Rabbi von Ger und Nachkomme der Gerechten, Gelehrten und Heiligen aus den Familien Rakover und Meisls, schreibe diese Zeilen, während die Häuser des Warschauer Ghettos in Flammen stehn und das Haus, in dem ich mich befinde, eins der letzten ist, das noch nicht brennt.
[ … ]
Mein Rabbi pflegte mir immer wieder die Geschichte von einem Juden zu erzählen, der mit Frau und Kind der spanischen Inquisition entkommen war und sich auf einem kleinen Boot über stürmische See zu einer steinigen Insel durchgeschlagen hatte. Da zuckte ein Blitz auf und erschlug die Frau. Da kam ein Sturmwind und wirbelte sein Kind ins Meer. Allein, elend, hinausgeworfen wie ein Stein, nackt und barfuß, vom Sturm gepeitscht, von Donnern und Blitzen geschreckt, die Haare zerzaust und die Hände zu Gott erhoben, ist der Jude seinen Weg weitergegangen auf die wüste Felseninsel und hat sich an Gott gewandt:
„Gott Israels“, sagte er, „ich bin hierher geflohen, daß ich Dir ungestört dienen kann: um Deine Gebote zu tun und Deinen Namen zu heiligen. Du aber tust alles, daß ich an Dich nicht glauben soll. Wenn Du aber meinen solltest, daß es Dir gelingen wird, mich mit diesen Versuchungen vom richtigen Weg abzubringen, ruf‘ ich Dir zu, mein Gott und Gott meiner Eltern, daß es Dir alles nicht helfen wird. Magst Du mich auch beleidigen, magst Du mich auch züchtigen, magst Du mir auch wegnehmen das Teuerste und Beste, das ich habe auf der Welt, und mich zu Tode peinigen – ich werde immer an Dich glauben. Ich werde Dich immer liebhaben, immer – Dir selbst zum Trotz!“
Und das sind auch meine letzten Worte an Dich, mein zorniger Gott: Es wird Dir gar nichts nützen! Du hast alles getan, daß ich an Dir irre werde, daß ich nicht an Dich glaube. Ich sterbe aber gerade so, wie ich gelebt habe, als unbeirrbar an Dich Glaubender.
Gelobt soll sein auf ewig der Gott der Toten, der Gott der Vergeltung, der Wahrheit und des Gerichts, der bald sein Gesicht wieder vor der Welt enthüllen wird und mit Seiner allmächtigen Stimme ihre Fundamente erschüttert.
Zvi Kolitz, aus: „Jossel Rakovers Wendung zu Gott“,
Diogenes 2004
••• Diese kleine jiddische Erzählung von gerade einmal 25 grosszügig bedruckten Seiten ist Jossel Rakovers letztes, intimes Gespräch mit Gott vor seinem Tod. Gedruckt wurde sie erstmals im September 1946 in „Die Jiddische Zeitung“ von Buenos Aires. Ihr Autor, Zvi Kolitz, war damals noch nicht ganz 27 Jahre alt, seine Familie bereits 1937 aus Litauen nach Palästina emigriert.
Der Bericht, das Flaschenpost-Testament, ist fiktiv. Die Idee beruht auf der wahren Geschichte einer polnischen Gemeinde. Dort hatte man die Chronologie des Untergangs schriftlich festgehalten und in Flaschen vergraben. Aber es waren nicht Jossel Rakovers letzte Worte an Gott, die dort vergraben wurden.
Das Manuskript nahm nach der Veröffentlichung ein Eigenleben an, schüttelte immer wieder seinen Autor ab und wurde in verschiedenen Übersetzungen anonym veröffentlicht – als authentisches Dokument.
Thomas Mann hat den Text im Radio gehört und rühmt ihn kurz vor seinem Tod in einem Brief wie eine heilige Schrift als „erschütterndes menschliches und religiöses Dokument“. Rudolf Krämer-Badoni schreibt Jossel Rakover, dessen Asche er in der Asche Warschaus vermutet, eine ergreifende Antwort: „Ich habe gerade Deinen Brief gelesen. – Wie groß muß Dein Gott sein, der solche Seelen in Menschen erweckt!“
Noch größer als dieses Echo ist jedoch der wütende Protest und Tumult, den danach die Briefe eines Herrn Kolitz – nicht aus dem Jenseits, sondern aus New York – auslösen, in denen er sich zur Urheberschaft bekennt und als normal sterblicher Autor zu erkennen gibt, der erstens lebt und zweitens nie in Warschau war. Das soll ihm nicht verziehen werden. Da könne ja jeder kommen! Da könne man ja gleich sagen, daß auch Auschwitz nur eine Erfindung sei…
(Paul Badde)
Doch „Jossel Rakovers Wendung zu Gott“ ist und bleibt, wie Thomas Mann den Text charakterisierte. Es ist ein Text, den man gelesen haben muss.
„Hester Ponim“ nennen manche die Zeit der Auslöschung – das verborgene Antlitz Gottes: Einen Augenblick nur hast Du Dein Antlitz von der Welt abgewandt, mein zorniger Gott, aber es wird Dir nichts nützen…
Ich bete jeden Morgen in der Synagoge mit einem sehr freundlichen Herrn. Er hat die „Aschenzeit“, wie Immanuel Weissglas sie nannte, überlebt. Er weiss zu genau, dass Auschwitz keine Erfindung ist. Heute ist er weit über achtzig, ein heller Geist in einem schwächer werdenden Körper. Das Gehen fällt ihm schwer, doch er kommt jeden Tag. Oft betet er vor. Sein Name ist Josef – auf Jiddisch Jossel. Heute hat er Geburtstag. Ich bin dankbar, ihn zu kennen.
Herzlichen Glückwunsch, Jossel.
Am 2. Januar 2007 um 17:17 Uhr
[…] Als mir im letzten Jahr durch einen glücklichen Zufall “Jossel Rakovers Wendung zu Gott” in die Hände kam, fiel mir sofort Binjamins Buch ein und damit auch mein unfreundschaftliches Versäumnis: dass ich ihn nie angerufen habe, um ihm das alles zu sagen. […]
Am 4. April 2007 um 22:49 Uhr
[…] Vom verhüllten Angesicht Gottes – Hester Ponim – war hier schon einmal die Rede. An Pessach ist alles anders. Pessach – das ist das Fest der […]
Am 8. Dezember 2007 um 21:15 Uhr
[…] … und Josef Uni wird heute 88. Das werden wir morgen bei einem Hering-Wodka-Frühstück gebührend […]
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