grau grau graues durcheinander
von wo kein zug abfährt wo ein riesiger rabe
sich schwarz zwischen die schienen setzt
bahnhof das ist aller orte kältester nachts
schläft niemand
seht unsre gesichter vom laster zerfetzt und
wenn der bahnhof abfährt seht uns trinken
gefangenschaft trinken aus schmutzigem glas
trinken bis der teufel kommt sprechen
zu keinem und alternd noch immer uns wundern
über die gedanken des zerrauften haars
sommer winter jahrhunderte kommen vorüber
uns berühren sie nicht seht uns verweilen
im rauch der rasenden wartesäle einmal
weinen ein paar mal lachen und lauschen
wenn vor dem fenster ein betrunkner
wie verrückt einen namen schreit.
Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
S. Fischer Verlag (1979)
••• Der Süden meines gewesenen kleinen Landes war fruchtbar für Dichtung. Er ist es immer noch. Ich glaube sogar, diese Gegend hat einen ganz eigenen Ton hervorgebracht, dem man nachlauschen kann, wenn man Wolfgang Hilbig liest.
Als ich Mitte November 1989 meinen ersten Ausflug nach West-Berlin machte, gab es wenig angenehme Eindrücke. [Ich sollte ein anderes Mal mehr davon schreiben; doch nicht jetzt.] Aber ich kehrte mit zwei Büchern heim: Salman Rushdies „Satanischen Versen“ und dem Gedichtband „abwesenheit“ von Wolfgang Hilbig, der in der DDR verboten war. Zum ersten Mal gehört hatte ich von Hilbig in einer kalten Nacht auf dem Dresdner Hauptbahnhof.
bahnhof das ist aller orte kältester nachts
schläft niemand
Mit Undine Materni, die mir diese Verse auf dem Bahnsteig vorsagte, war ich oft und über vieles herzlich uneins. Nicht aber, was Hilbig betrifft. Wir standen staunend und in großer Bewunderung vor diesen Versen. Hilbig traf mit ihnen schmerzlich genau. Dass seine in „abwesenheit“ zusammengestellten, zwischen 1965 und 1977 entstandenen Gedichte in der DDR nicht erscheinen konnten, lag auf der Hand.
Seine Biographie versetzte mich in Angst und Schrecken: Erdbauarbeiter, Aussenmonteur, Abräumer in einer Ausflugsgaststätte und schliesslich Heizer. In den wenigen Monaten meines Nachtpförtnerdaseins habe ich mir oft genug ausgemalt, wie das mit mir werden soll, wenn es weiter mit der Anpassung hapert. Wenn ich weiter schreiben und unbedingt schreiben will, den „Mund voll Wind“, wie Hilbig es ausdrückte. Von solchen Aussichten träumt es sich nicht gut.
Ich hatte Glück. Mein Randstehen dauerte nur wenige Monate. Dann waren die Grenzen offen; und der Rest erledigte sich schnell. Ich hatte Glück und war – bei aller beunruhigenden Unsicherheit über die bevorstehende Zukunft – sehr erleichtert.
An Hilbigs „bahnhof“ musste ich an jenem Tag im November denken, als ich mich durch die Katakomben des Berliner S-Bahnhofs Friedrichstrasse drängte auf meinem Weg zur anderen Seite der Welt, die in Wirklichkeit nur die andere Seite des gleichen Bahnsteigs war. Und so ging ich in die nächste grössere Buchhandlung und kaufte mir mein Exemplar „abwesenheit“ und trug es nach Hause.