Begegnung

Donnerstag, den 28. Juni 2007

Als wir begannen, schamlos zu betrachten
des andren Lippen, Augen, Hand und Haar
vergaßen wir sehr bald, darauf zu achten
was vorher uns die größte Angst noch war:
daß ohne Müh der andre uns erkennte.

Ich war darauf nicht sonderlich erpicht
daß mit dem ersten Wort uns nicht mehr trennte
Verschwiegenes, das meint: den kennst du nicht.

Sagt ich: Zur Offenheit gehört auch Mut
da riefst du: Feigling! Hast mich so genannt
und ich war stumm und Traurigkeit wohl da.

Doch wurd ich froh am Ende, als ich sah:
Wir hatten uns – trotz allem – doch erkannt.
Und wußt es: So – und nur so – war es gut.

© Benjamin Stein (1989)

An eine, die vorüberging

Mittwoch, den 13. Juni 2007

Der Straßenlärm betäubend zu mir drang.
In großer Trauer, schlank, von Schmerz gestrafft,
Schritt eine Frau vorbei, die mit der Hand gerafft
Den Saum des Kleides hob, der glockig schwang;

Anmutig, wie gemeißelt war das Bein.
Und ich, erstarrt, wie außer mich gebracht,
Vom Himmel ihrer Augen, wo ein Sturm erwacht,
Sog Süße, die betört, und Lust, die tötet, ein.

Ein Blitz … dann Nacht! – Du Schöne, mir verloren,
Durch deren Blitz ich jählings neu geboren,
Werd in der Ewigkeit ich dich erst wiedersehn?

Woanders, weit von hier! zu spät! soll’s nie geschehn?
Dein Ziel ist mir und dir das meine unbekannt,
Dich hätte ich geliebt, und du hast es geahnt!

Charles Baudelaire

••• Vor 150 Jahren erschien die Erstausgabe der „Fleurs du Mal“ von Charles Baudelaire, eine Sammlung von 100 Gedichten, deren Bedeutung für die moderne Lyrik kaum zu überschätzen ist.

Der vorgestern erschienene „Spiegel“ widmet in seinem allzu schmalen Kulturteil diesem „Gründungsdokument der Moderne“ einen zweiseitigen Artikel. Geschrieben ist er von Michael Krüger, Geschäftsführer des Münchner Carl Hanser Verlags und Herausgeber der vorwiegend mit Lyrik befassten Literaturzeitschrift „akzente“.

Die Modernität ist das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige, ist die Hälfte der Künste, deren andere Hälfte das Ewige und Unabänderliche ist.

Dass Krüger Baudelaire ausgerechnet mit diesen Worten zitiert, kommt nicht von ungefähr. Sein kurzer Beitrag wirft im Vorbeigehen auch einen Blick auf die Moderne in der Literatur. Seine Äusserungen – etwa zu Joyce’s „Finnegans Wake“ – haben meine Sympathie; doch sie werden die Leserschaft zweifellos polarisieren.

Die Lektüre lohnt jedenfalls, eine Diskussion wohl auch. Leider ist die Internetanbindung hier im Hotel seit Tagen gestört. Diesen Beitrag sende ich vom Handy aus. Ob und wie ich mich an einer Diskussion beteiligen kann, ist daher leider ungewiss.

Der Rhythmus

Freitag, den 1. Juni 2007

Die Uhr hat unter Keuchen zwölf geschlagen
im Nachbarsaal, der finster ist und leer;
die Augenblicke, das Sekundenheer,
das ins Vergessen eilt mit unsren Tagen,

jagt wieder weiter, achtet nicht der Klagen
und prägt das Muster neu im Zeitenmeer;
vom Rhythmus – träumerisches Ungefähr
laß ich mich neu dem Ziel entgegentragen.

Die Augen öffnen sich, das Licht ist grell,
ich hör mein Herz in seinem Weiterschreiten
und dieser Zeilen abgemeßnes Gleiten,
die Sphärenharmonien klingen hell.

Uns treibt der Rhythmus. Ziellos sind die Weiten!
Doch ohne ihn erstürb‘ das Leben schnell.

Ivan Bunin (1912)

••• Und dank Hilbi hier eine lyrische Ergänzung zum letzten Beitrag. Ich kann ja nichts dafür: Schon wieder ein Sonett!

Gereimtes Versmass

Mittwoch, den 30. Mai 2007

••• Heute steht Leserverschickung auf dem Programm. Aber nicht ins Landschulheim wird verschickt, sondern nach nebenan, ins Arbeitsjournal von Alban Nikolai Herbst. Gestern nämlich stand auf seinem Programm wieder mal eine Variation der Sonettenform, und zwar eine, die ich originell finde.


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Autorenbesuch

Donnerstag, den 24. Mai 2007

••• Zu den schönsten Momenten meines Bloggerdaseins gehört es, wenn Autoren, die hier besprochen wurden, höchstselbst dem Turmsegler einen Besuch abstatten und dabei auch noch einen Kommentar hinterlassen. In der Debatte um die Übersetzungen der Shakespeare-Sonette hat sich nun Christa Schuenke zu Wort gemeldet. Ich werde es mir nicht nehmen lassen, Sie nach ihrer Meinung zur Weinert-Übertragung der Sonette zu befragen. Die Grundannahmen beider Übersetzer sind ja sehr unterschiedlich…

Nachtrag: Es sieht so aus, als würde Christa Schuenke sich zu einem Gastbeitrag hinreissen lassen. Aber es kann ein paar Wochen dauern, sagt sie. Ich warte gern…

Männliche und weibliche Reime

Dienstag, den 22. Mai 2007

••• Vorgestern kam ein dickes E-Mail-Paket von Undine Materni. Darin unter anderem eine Neuübersetzung der Shakespeare-Sonette. Sie stammt von Jan Weinert, geboren 1963 in Jena und selbst umtriebiger Lyriker und Erzähler. Einmal begonnen, konnte ich nicht aufhören zu lesen; und eines ist klar: Diese Übertragung verdrängt für mich nun jene von Frau Schuenke ganz gründlich. Der Hauptgrund ist die ungeheure Textnähe, die Weinert in seiner Nachdichtung gelingt. Doch ganz nah ist Weinert dem Original auch in der musikalischen Stimmung der Sonette.

Letzteres konnte ich nur erfühlen, ohne es genauer belegen zu können. Glücklicherweise lieferte mir Undine Materni auch die Erklärung: männliche und weibliche Reime.


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Vergleich ich dich mit einem Sommertag?

Freitag, den 18. Mai 2007

Shall I compare thee to a summer’s day?
Thou art more lovely and more temperate:
Rough winds do shake the darling buds of May,
And summer’s lease hath all too short a date:
Sometime too hot the eye of heaven shines,
And often is his gold complexion dimmed,
And every fair from fair sometime declines,
By chance, or nature’s changing course untrimmed:
But thy eternal summer shall not fade,
Nor lose possession of that fair thou ow’st,
Nor shall death brag thou wander’st in his shade,
When in eternal lines to time thou grow’st,
So long as men can breathe, or eyes can see,
So long lives this, and this gives life to thee.

Vergleich ich dich mit einem Sommertag?
Du hast mehr Maß und größre Lieblichkeit.
Die Maienknospe, die verzärtelt lag,
Schlägt rauher Wind; kurz währt des Sommers Zeit.
Des Himmels Auge brennt manchmal zu heiß,
Sein goldnes Antlitz, oft trübt sich’s für lang.
Und alles Schöne gibt die Schönheit preis,
Sei’s Zufall, sei’s des Wandels kruder Gang.
Doch nie soll deines Sommers Pracht ermatten,
Nie soll zerschleißen deiner Schönheit Kleid,
Nie Tod sich brüsten, daß in seinem Schatten
Du gehst: Im Vers zwingst du die Sterblichkeit.
Solang ein Mensch noch atmet, Augen sehn,
Solang dies steht, so lang wirst du bestehn.

William Shakespeare, Sonett Nr. XVIII
Übertragung: Christa Schuenke
© der Übertragung Straelener Manuskripte Verlag 1994

••• Mit Stefan Georges Übertragung dieses Sonetts konnte meine Frau sich gar nicht anfreunden. Als sie das Original gelesen hatte, meinte sie: So ein schönes Gedicht; und was ist in der Übertragung davon übrig geblieben?

So streng würde ich mit George nicht umspringen wollen. Aber tatsächlich liest sich die Übersetzung von Christa Schuenke da schon ganz anders und fängt, wie ich meine, deutlich mehr von der ursprünglichen Atmosphäre dieses Sonetts ein. Aus diesem Grund hier – speziell für meine Herzdame – das Sonett Nr. XVIII von Shakespeare noch einmal, diesmal übersetzt von Christa Schuenke.