Verdrängte Schatten

Dienstag, den 21. August 2007

cigarette - © 2004-2007 by ~5tellaWasADiver@deviantart.com

cigarette — © 2004-2007 by ~5tellaWasADiver@deviantart.com

mit einer zigarette taucht am abend
die traurigkeit der kindheit wieder auf
aus der erinnerung entsteigen narbend
gehüllt in rauch verdrängte schatten auf
zerfließen langsam malen an die wand
das bild des baums vorm haus: dem wind sich neigend
das mählich sich verzerrt und aus ihm steigend
erreicht im dunkel mich dann deine hand
die tröstend harte und sie will nicht weichen
beharrlich bleibt sie läßt nicht ab von mir
und wiederholt der liebe kalte zeichen
wie du mich einst ertrugst in dir und mir
das leben gabst: mit schmerz – gerade so
ruft mich dein schatten fort ins nirgendwo

© Benjamin Stein (1988)

••• Das ist eines der Gedichte, bei denen ich mir über die Jahre immer unsicher war, ob es nicht doch lieber zu vernichten sei. Das letzte Terzett schien mir immer misslungen, aber man kann, wenn so ein Text einmal „ausgeatmet“ ist, nicht ohne weiteres den Schluss durch einen anderen ersetzen. Das wäre mir – wunderlich vielleicht – doch unehrlich erschienen.

Nun, ich habe es trotz der Bedenken aufgehoben, möglicherweise weil es die Brücke zum Motiv des bei lebendigem Leib verbrennenden Rottenstein (nicht wirklich, oder doch?) im „Alphabet des Juda Liva“ gewesen sein könnte.

Das elfte Sonett

Dienstag, den 14. August 2007

Als ich dich in das fremde Land verschickte
Sucht ich dir, rechnend mit sehr kalten Wintern
Die dicksten Hosen aus für den (geliebten) Hintern
Und für die Beine Strümpfe, gut gestrickte!

Für deine Brust und für unten am Leibe
Und für den Rücken sucht ich reine Wolle
Damit sie, was ich liebe, wärmen solle
Und etwas Wärme von dir bei mir bleibe.

So zog ich diesmal dich mit Sorgfalt an
Wie ich dich manchmal auszog (viel zu selten!
Ich wünscht, ich hätt das öfter noch getan!)

Mein Anziehn sollt dir wie ein Ausziehn gelten!
Nunmehr ist, dacht ich, alles gut verwahrt
Daß es auch nicht erkalt, so aufgespart.

Bertolt Brecht (1934)

••• Die Herzdame verreist. Und ich will sie doch gut verpackt wissen, wenn sie so ohne mich in die Fremde zieht…


Den ganzen Beitrag lesen »

Es ist alles eitel

Mittwoch, den 25. Juli 2007

Du sihst, wohin du sihst, nur Eitelkeit auff Erden.
Was diser heute baut, reißt jener morgen ein:
Wo itzund Städte stehn, wird eine Wisen seyn,
Auff der ein Schäfers-Kind wird spilen mit den Herden;

Was itzund prächtig blüht, sol bald zutretten werden.
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein,
Nichts ist, das ewig sey, kein Ertz, kein Marmorstein.
Jtzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Thaten Ruhm muß wie ein Traum vergehn.
Soll denn das Spiel der Zeit, der leichte Mensch, bestehn?
Ach! was ist alles diß, was wir vor köstlich achten,

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind;
Als eine Wisen-Blum, die man nicht wider find’t.
Noch wil, was Ewig ist, kein einig Mensch betrachten!

Andreas Gryphius (1616 – 1664)

••• Heute klaue ich mal, und zwar beim Bondageprojekt, das hier schon einmal „Auf die Rolle“ genommen wurde und wo man obiges Sonett des grössten deutschen Sonettendichters des 17. Jahrhunderts auch im Podcast anhören kann.

Mein letzter Kranz

Sonntag, den 15. Juli 2007

Was blumengeschmückt ist, das mögen auch die Götter gerne anschauen, ihr Blick wendet sich ab, wenn jemand ohne Kranz naht.

Sappho

••• Sie ist da, die Ausgabe 4 von spa_tien. Sichtung und Auswahl der Texte, Redaktionskonferenzen per Skype etc. etc. – das alles hat mir grossen Spass gemacht, den beiden Mitübeltätern Hartmut Abendschein und Markus A. Hediger wohl nicht minder.

Kultig in diesem Heft ist sicher der Sonettenkranz von Hartmut Abendschein. Markus und ich haben diverse Überredungskünste aufwenden müssen, dem Autor die Veröffentlichungserlaubnis zu entringen. Doch wir waren erfolgreich.


Den ganzen Beitrag lesen »

Begegnung

Donnerstag, den 28. Juni 2007

Als wir begannen, schamlos zu betrachten
des andren Lippen, Augen, Hand und Haar
vergaßen wir sehr bald, darauf zu achten
was vorher uns die größte Angst noch war:
daß ohne Müh der andre uns erkennte.

Ich war darauf nicht sonderlich erpicht
daß mit dem ersten Wort uns nicht mehr trennte
Verschwiegenes, das meint: den kennst du nicht.

Sagt ich: Zur Offenheit gehört auch Mut
da riefst du: Feigling! Hast mich so genannt
und ich war stumm und Traurigkeit wohl da.

Doch wurd ich froh am Ende, als ich sah:
Wir hatten uns – trotz allem – doch erkannt.
Und wußt es: So – und nur so – war es gut.

© Benjamin Stein (1989)