Salome

Sonntag, den 7. Januar 2007

Salome - by lawrencew

Das Riesenrad dreht sich nicht, es ist Nacht.
Der Wind bewegt die Gondeln, in der obersten
Auf einer Holzbank die Tänzerin, die Schuhe
Zertanzt. Sie ist achtzehn mit allen Diplomen
Seit sie den Roten liebt den mit der weissen Haut
Er über die Welt spricht
Tanzt sie wie eine Feder.

Der Rote wiegelt die Leute auf
Da steht er am Fenster zählt Flugblätter ab
Setzt sich aufs Fahrrad rollt über das Pflaster
Das war das Attentat.
Der Rote hat eine Kugel im Kopf und redet
Irre. Das Riesenrad dreht sich nicht

Salome schaukelt
Kommt nicht aus der Gondel, nicht diese Nacht
Salome hat sich
Eingeschlossen. Später
Muß sie gehn und fordert den Kopf.

Sie tanzt wie eine Feder
Leicht gebogen, den Kopf zurück, auf den Zehn.

Sarah Kirsch, aus: „Landaufenthalt“
zu finden in: „Sämtliche Gedichte“
© Deutsche Verlags-Anstalt 2005


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Die Büchse der Pandora

Sonntag, den 31. Dezember 2006

Zu bestimmten Zeiten, das könnten die Zwölf Haydnischen Nächte sein, haben unsere Männer, von denen wir im Streit geschieden sind, gewisse Macht über uns. Das dürfen sie nie erfahren. Die möglichen glücklichen Konstellationen werden ihnen verborgen sein, weil sie dergleichen nie zu hoffen wagen und wir ihnen auch in sieben greifbaren Jahren merkwürdig fremd geblieben sind. Die Schrift hier wird ihr übriges tun. Sie an Tagen sicher machen, wo bei uns nichts zu holen ist. Sie werden immer zur falschen Zeit zum Telefonhörer greifen, und das bewirkt, daß wir unserer letzten Liebe wieder treu sind auf Jahre.

Sarah Kirsch, aus: „Drachensteigen“
zu finden in: „Sämtliche Gedichte“
© Deutsche Verlags-Anstalt 2005

Orient Express Werbeplakat••• An einem 31. Dezember – ich glaube, es war 1997 – fuhr ich mit meiner damaligen Lebensgefährtin im historischen Orient Express durchs tief verschneite Bayern. Es hatte minus 25 Grad. Auch in den Waggons war es bitterkalt, die Scheiben dicht zugefroren. Wir kratzten Figuren und zwei kleine Gucklöcher ins Eis und tranken Tee.

Es war eine nostaligische Fahrt. Wir waren im siebten Jahr und bestürzt über die Entfernung zwischen uns. Die Jahresendstimmung, das Ambiente des alten Waggons und die Figuren im Eis machten einen Augenblick, wie Sarah Kirsch ihn beschreibt. Wir hofften mit Brecht:

Der abgerissene Strick kann wieder geknotet werden.
Er hält wieder, aber
Er ist zerrissen.

Der Augenblick währte nur kurz, wie es Augenblicke an sich haben. Es gab einen wehmütigen Abschied, als der Zug nach der Rundfahrt München wieder erreicht hatte. Die Kälte hing uns bitter in allen Gliedern.

Vom geknoteten Strick war später noch manches Mal die Rede. Gehalten hat er nicht.

Die Engel

Freitag, den 29. Dezember 2006

Der Himmel auf tönernen Füßen
Wir fahren darunter in kleinen Autos
Die Brücken
Fangen ihn ab eine Zeit lang
Wird er blau sein, Vögel
Und Nacht und Tag und manchmal
Ein Nordlicht in fremden Breiten
Einer wird, in verwirrenden Farben, ihn sehn
Wenn ihm gut oder nicht ist und der Mond und die Sonne
Hineingeschossene Löcher
Werden kühlen wärmen bis dann
Die letzte Stunde gekommen ist
Und die Engel mit eiskalten Augen
Die großen Blätter auf denen Geschichte verzeichnet ist
Einrollen ein neues
Licht anzünden

Sarah Kirsch, aus: „Landaufenthalt“
zu finden in: „Sämtliche Gedichte“
Deutsche Verlags-Anstalt 2005

Sämtliche Gedichte••• August 1977: Ich fieberte meinem ersten Schultag entgegen. Da verliess Sarah Kirsch mein kleines Land. Ich wusste nichts von ihr.

Erst sieben oder acht Jahre später – Sarah Kirsch hatte gerade den Friedrich-Hölderlin-Preis erhalten und lebte unterdessen in Schleswig-Holstein – raunte Undine Materni mir zu: „Sarah Kirsch ist sowieso die Grösste…“

Ob sie sich daran noch erinnert? Die Grössenverhältnisse wechseln ja mitunter im Laufe der Zeit. – Wie dem auch sei: Ich war damals für diese Gedichte zu jung und habe sie erst viel später für mich entdeckt.

Von der DVA gibt es seit letztem Jahr eine – vorläufige! – Gesamtausgabe der Gedichte von Sarah Kirsch. Beim Blättern sind mir noch zwei andere Texte wiederbegegnet. (Stay tuned!)