Liebes-Lied

Sonntag, den 26. Juli 2009

Wie soll ich meine Seele halten, daß
sie nicht an Deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?

Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.

Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.

Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süßes Lied.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

••• Mit Tanja Warter (Presse C. H. Beck) sprach ich am Freitag über die Inkompatibilität zwischen orthodoxem Alltag und Literatur. Sie war überrascht. Ich habe darüber noch nie gesprochen, aber mich bewegt der Gedanke schon seit geraumer Zeit. Streng genommen ist er schon präsent, seit ich die Arbeit an der »Leinwand« begonnen habe. Es ist sicher kein Zufall, dass ich Amnon Zichroni mit 15 Jahren in das verbotene Zimmer der Eltern führe und ihn dort auf die »unpassende Liebe«, nämlich die Dichtung stoßen lasse. Nun ist Amnons Konflikt nicht einmal der, orthodox zu sein und »verbotene Bücher« zu schreiben. Der erste wesentliche Wendepunkt in seinem Leben belegt aber, wie deutlich die »Inkompatibilität« ist. Allein diese Bücher zu lesen, wird schon als »bitul zman« (Zeitverschwendung) betrachtet. Um wie viel größer ist die Verschwendung, wenn man nicht nur liest, sondern diese Bücher auch noch schreibt?

Es sind besonders die Folgen des Schreibens und Veröffentlichens, die im Kontrast stehen zu den Forderungen der Mussar-Lehrer, Demut zu üben, das Ego zurückzudrängen, in der Gemeinschaft aufzugehen, statt als Individuum hervorzustechen durch Talente und Fähigkeiten, die nicht in direktem Torah-Zusammenhang stehen.


Den ganzen Beitrag lesen »

Herbsttag

Sonntag, den 2. September 2007

Autumn - © by *Floriandra@deviantart.com (2006-2007)

Autumn – © by *Floriandra@deviantart.com (2006-2007)

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke

••• Angeblich soll es Herbst werden. Ich bin noch nicht bereit. Wir sind es noch nicht. Einige südlichere Tage würden wir brauchen, um behutsam in unseren Herzen umzugehen, zu schauen, heilend die Hände aufzulegen. Bevor es kalt wird, bevor die Regentage kommen und schliesslich der Schnee.

Nicht mehr bewacht

Sonntag, den 26. August 2007

Rainer Maria Rilke

Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten,
denn er muß meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten
seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.

Rainer Maria Rilke

••• Per Mail habe ich leider noch nicht wie gehofft Hinweise auf markante Engelsgedichte bekommen. So suche ich selbst weiter.

Wäre dieses Weblog nicht, ich würde mich wohl nicht dafür interessieren, wie die einzelnen Autoren ausgesehen haben oder auch noch aussehen. So gehe ich aber doch immer wieder auf die Suche auch nach Poträts der zitierten Dichter. So durfte ich heute zum ersten Mal Rilke in die Augen sehen. Meine Knie zittern noch leicht…

Schlußstück

Montag, den 19. Februar 2007

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen,
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.

Rainer Maria Rilke

••• Da wir beim Thema sind… Heute lese ich einen Essay von Rabbiner Maurice Lamm über Sterbebegleitung. Und was lese ich da?

Während die Stunde der Dämmerung in der äusseren Natur leuchtende und unvergessliche Szenen hervorbringt, ist sie bei den Menschen meist grau und bleich, ein Dunst, der von der aufkommenden Finsternis verschluckt wird. Dies müsste nicht so sein. Nach dem anfänglichen Trauma sollte das Sterben als eine Stille empfunden werden, eine gelassene Heiterkeit, ein Zusammenkommen aller Ereignisse des Lebens, ein Schlussstrich, der alles zusammenfasst, ein bisher nicht gekannter Friede. Der unablässige Druck, „es zu schaffen“, der Drang nach immer mehr Besitz entfallen. Nun gibt es keinen Ruhm mehr zu ernten, keine unerreichbaren Ziele mehr zu erreichen, keine kleinlichen Machtpositionen mehr zu ergattern. Kein berühmtes Vorbild muss mehr nachgeahmt, niemand mehr beeindruckt werden. Keine Spiele sind mehr zu spielen. […] Der Patient am Lebensende kann sich endlich loslösen von allem, was nicht mehr unmittelbar zu seinem eigenen Selbst gehört. Er kann lieben, wen er lieben möchte, es gibt keine Hintergedanken mehr. Er ist allein mit seinem Sinn und seiner Seele, mit seinen Erinnerungen, seinem Glauben und seinen Werten. […] Es mag das erste Mal sein, dass er es sich leisten kann, in Reinheit und in völliger Aufrichtigkeit mit seinem eigenen Selbst zu leben.

Der Gedanke lohnt, ob dieser Zustand nicht auch zu erreichen wäre, bevor wir dem Tod ins Auge schauen müssen. Das wäre ein Leben.

Einsamkeit

Donnerstag, den 28. Dezember 2006

Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen…

Rainer-Maria Rilke (21. 9. 1902, Paris)
aus: „Die Gedichte“, Insel Verlag 1998

Pusteblumenbrunnen in der Dresdner Prager Strasse••• Wie wir vom Klappentext der „Gilgamesh“-Neuübertragung erfahren haben, war das Epos auch für Rilke eine grosse Inspiration. Da der Name gefallen ist, hier ein weiteres meiner Lieblingsgedichte.

Diese Entdeckung verdanke ich einer Bildhauerin: Leonie Wirth. Die Wasserspiele in der Fussgängerzone der Dresdner Innenstadt wurden von ihr entworfen. Sie schrieb mir – ich glaube um 1987 – einen Leserbrief auf eine Gedichtveröffentlichung in einer Zeitung. Es entspann sich ein kurzer Briefwechsel um bildende Kunst und Literatur. Damals schrieb man noch Briefe. Ich habe sie auch besucht in ihrem Haus bei Dresden, ein Haus voller Katzen und grossen Plastiken aus Glas und Stahl. Man konnte kaum glauben, wie diese zarte Person die gewaltigen Materialien überhaupt bewegen konnte.

Sie lebte sehr zurückgezogen. Ihr Haupt-Engagement – nach meinem Eindruck noch weit vor der Bildhauerei – galt dem Tierschutz. Das Gedicht schickte sie mir nach meinem Besuch. Danach habe ich nichts mehr von ihr gehört. Sie müsste jetzt um die 70 sein. Ich weiss nicht, was aus ihr geworden ist.

Der Panther

Donnerstag, den 30. November 2006

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer-Maria Rilke (1875-1926)
aus: „Die Gedichte“
© Insel Verlag 1998

••• Mein kleines Land. In dem Land, aus dem ich komme, war alles klein: der Horizont, die Möglichkeiten und vor allem die Bürger.

Das vorherrschende Gefühl meiner Jugend war Enge, Beschränktsein. Die Ursache dafür lag nicht in den verminten Grenzstreifen und dem Stacheldraht, die den Weg in Richtung Westen versperrten. Es lag mehr an der eigentümlichen Gesellschaft, der es gelang, in diesem kleinen, beschränkten Biotop die Welt zu sehen.

Ich nahm teil am Literaturkurs unseres Abiturjahrgangs. Wenigstens mit der Nase im Buch versuchten wir, unseren Horizont zu erweitern. Wir lasen Salinger, ja sogar Kerouac, und kamen uns dabei schon subversiv vor. Als einer meiner Freunde Rilkes Panther entdeckte und uns vorlas, erkannten wir alle uns wieder. Steckte nicht in uns allen diese Kraft? Und fürchteten wir nicht alle, sie würde sich eines Tages totlaufen im Käfig, hinter tausend Gitterstäben, die unser kleines Land umgrenzten und hinter denen wir die wirkliche Welt vermuteten?

Wir waren uns unserer selbst nicht sicher.