Santiago, New York und Isla Negra

Donnerstag, den 29. September 2016


Statue der Inmaculada auf dem San Cristóbal

••• Es fällt mir schwer zu schreiben. Dabei bin ich an einem Sehnsuchtsort. Vierunddreißig Jahre habe ich darauf gewartet, einmal durch die Straßen von Santiago de Chile zu gehen. Jetzt bin ich hier. Und wäre ich im Vollbesitz meiner Kräfte, würde es nicht mehr als diese Fakten brauchen, um einen ganzen Regenbogen an Geschichten aufzuspannen. Aber es fällt mir schwer zu schreiben. Wie kann das sein?

Als ich vor fast einem Jahr die Einladung zum Filba-Festival in Buenos Aires erhielt, war mir sofort klar, dass ich diese Gelegenheit nutzen würde, um nach Chile zu reisen. Drei Dichter, die mich maßgeblich geprägt haben, stammen von hier: Gabriela Mistral, Pablo Neruda und Antonio Skármeta. Dabei war Skármeta derjenige, über den mir die beiden anderen überhaupt erst wirklich zugänglich wurden.


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Buch, gib mich frei

Dienstag, den 16. April 2013

Buch, so ich dich schließe,
schlag ich das Leben auf.
Ich höre
aus den Türen
abgerissene Rufe.

••• Vor einigen Tagen durfte der Turmsegler mal einem wahren Leseransturm standhalten. Das Interesse des Publikums galt einem »alten« Post über Brechts »Sonett Nr. 19«. Das Gedicht spielte eine Rolle in einer Aufgabe der schriftlichen Abi-Prüfung Deutsch, die letzte Woche anstand. Da musste ich an meinen eigenen Abitur-Aufsatz denken. Ich schrieb damals über Nerudas »Ode an das Brot« (behauptet meine Erinnerung, also wollen wir es mal glauben). Nerudas Oden hatten es mir damals sehr angetan, besonders in der Übersetzung von Erich Arendt, an dessen Gedichten ich mich zur selben (Un-)zeit ebenfalls abarbeitete.

Ich ging also zum Bücherregal, um mir Nerudas »Elementare Oden« zu greifen und darin zu stöbern. Aber ich fand es nicht. Mir fiel auch wieder ein, warum ich es nicht finden konnte, denn ich hatte das Exemplar, in dem ich damals gelesen hatte, noch vor Augen. Es war eines jener in orangefarbene Wachstuchumschläge geklebten Bibliotheksexemplare der Bibliothek in Friedrichshagen, von der Wechsler in der »Leinwand« berichtet.

Keine Neurda-Oden im Haus! Also bin ich online suchen gegangen und dabei auf eine Perle dieser Sammlung gestoßen, die Doppel-»Ode an das Buch«. Ich will es einmal eine Doppel-Ode nennen, denn es gibt zwei »Oden an das Buch«.


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Gewisser Überdruß

Dienstag, den 2. September 2008

ashes to ashes, rust to rust - © Michel Valdrighi
ashes to ashes, rust to rust – © Michel Valdrighi

Ich mag nicht allein überdrüssig sein,
ich möchte, daß du mit mir überdrüssig bist.

Wie sich nicht abgestumpft fühlen
von gewisser Asche, die herbstens
auf die Städte fällt,
etwas, das nicht mehr brennen will,
und das auf den Kleidern sich häuft
und nach und nach sinken wird,
die Herzen bleichend.

Überdrüssig bin ich des rauhen Meeres
und der geheimnisvollen Erde.
Überdrüssig bin ich der Hühner:
nie wußten wir, was sie denken,
die uns mit trockenen Augen ansehn
ohne uns wichtig zu nehmen.

Ich lade dich ein, daß auf einmal
wir so vieler Dinge überdrüssig werden,
der schlechten Apéritifs
und der guten Erziehung.

Seien wir überdrüssig, nicht nach Frankreich zu gehn,
seien wir wenigstens überdrüssig
eines oder zweier Tage in der Woche,
die immerfort gleich heißen
wie die Gerichte auf dem Tisch,
und daß wir morgens aufstehen, wozu?
und daß wir ruhmlos zu Bett gehn.

Sagen wir endlich die Wahrheit,
daß wir nie einverstanden waren
mit diesen den Fliegen und Kamelen
vergleichbaren Tagen.

Ich habe so manche Monumente gesehen,
den Titanen errichtet,
den Eseln der Tatkraft.
Dort habt ihr sie, regungslos,
die Degen in der Hand,
auf ihren trostlosen Rossen.
Ich bin der Standbilder überdrüssig.
Ich kann so viel Stein nicht mehr ertragen.

Wenn wir fortfahren, die Welt derart
mit den Regungslosen anzufüllen,
wie sollen da die Lebenden leben?

Ich bin des Gedenkens überdrüssig.
Ich will, daß, wenn er geboren wird, der Mensch
die nackten Blumen atmet,
die frische Erde, das reine Feuer,
nicht, was alle atmen.
Laßt, die da geboren werden, in Ruh!

Gebt Raum, daß sie leben!
Habt ihnen nicht alles vorgedacht,
laßt sie nicht dasselbe Buch lesen,
laßt sie das Frührot entdecken
und ihren Küssen Namen geben.

Ich will, daß du überdrüssig bist mit mir
all dessen, was da wohlbereitet ist.
All dessen, was uns altern läßt.
Dessen, was sie vorbereitet haben,
die anderen zu ermüden.

Laßt uns überdrüssig sein dessen, was tötet
und dessen, was nicht sterben will.

Pablo Neruda, aus:
„In deinen Träumen reist dein Herz“
Einhundert Gedichte • Hrsg. Fritz Rudolf Fries
Luchterhand Literaturverlag 2004

••• Das wäre das Gedicht zur Tagesstimmung gewesen – bevor sie gegen den frühen Nachmittag plötzlich kippte, als nacheinander plötzlich mehrere gute Nachrichten eingingen.

Und nun, da ich mich gar nicht mehr so sehr voller Überdruss fühle, geht mir auf, dass die Momente des Überdrusses auf gewisse Weise auch sehr bequeme Momente waren.

Zusatz: Ursula T. Rossel Escalante Sánchez hat nicht nur das Original aufgespürt. Sie hat es auch noch für uns eingelesen. 1000 Dank. Ich habe mich sehr gefreut!

Ursula T. Rossel Escalante Sánchez liest:
Pablo Neruda • Cierto Cansancio

Ode an eine Uhr in der Nacht

Sonntag, den 18. März 2007

Lange 1 Werksansicht

An deiner Hand in der Nacht
wie ein Glühwurm schimmerte
meine Uhr.
Ich hörte
ihr Werk:
wie ein sprödes Geraun
von deiner unsichtbaren Hand
kam es her.
Da wandte sich deine Hand
zu meiner dunklen Brust,
meinen Schlaf und seinen Herzschlag aufzufangen.

Die Uhr
mit ihrer kleinen Säge
zerschnitt ohne Unterlass die Zeit.
Wie in einem Wald
fielen
Holzspäne nieder,
winzige Tropfen, Stückchen
Gezweig oder Nester,
ohne daß die Stille sich wandelte,
ohne daß die kühle Dunkelheit ein Ende fand,
also,
von deiner unsichtbaren Hand her, schnitt
die Uhr unaufhörlich
Zeit und Zeit,
und wie Blätter fielen
Minuten herab,
Fasern zerspellter Zeit,
winzige schwarze Federn.
Wie im Wald
roch es nach Wurzeln,
irgendwo ließ das Wasser
einen schweren Tropfen fallen
wie eine feuchte Traubenkugel.
Eine kleine Mühle
zermahlte Nacht,
summendes Dunkel
fiel nieder von Deiner Hand
und erfüllte die Erde.
Staub,
Erde, Ferne
mahlte und mahlte
von deiner Hand her
meine Uhr in der Nacht.

Ich schob
meinen Arm
unter deinen unsichtbaren Hals,
unter sein warmes Gewicht,
und in meine Hand
niederrieselte die Zeit,
Nacht,
winzig kleine Geräusche
von Holz und Wald,
von zerkleinerter Nacht,
von Schattensplittern,
von Wasser, das fällt und fällt:
Da
fiel der Schlaf
aus der Uhr und von
deinen schlummernden Händen,
fiel wie dunkles Wasser
der Wälder
von der Uhr
auf deinen Leib herab,
und von dir in die Lande,
dunkles Wasser,
Zeit, die fällt
und hinfließt
in unserm Innern.

Und so war jene Nacht,
Dunkel und Raum, Erde
und Zeit,
etwas, das fließt und fällt
und vorübereilt.
Also ziehen über die Erde
alle Nächte hin
und hinterlassen nur ein flüchtiges
schwarzes Arom,
es fällt ein Blatt,
ein Tropfen
auf der Erde,
ihr Klang verlöscht,
es schlummern Wald und Wasser,
die Wiesen,
die Glocken,
die Augen.
Ich höre dich, ja, du atmest,
meine Liebe,
Schlaf hüllt uns ein.

Pablo Neruda
Übertragung: Erich Ahrendt

••• Und jetzt – zum vorläufigen Abschied von Don Pablo – doch noch eine Ode.

Zu mechanischen Uhren hege ich eine innige Liebe. Sie sind etwas fürs Auge, fürs Ohr, für den Tastsinn. Sie sind kleine Maschinen mit der Anmutung von Leben. Und ihr rastloses Ticken wird immer den schöneren Klang abgeben als das sekundenweise Schlappen des Schrittmotors einer Quarzuhr. Solche Uhren sind einfach nicht poetisch, behaupte ich.

Oft lege ich meine Uhr auch nachts nicht ab, weil ich es zu gern mag, in den Sekunden des Hinübergleitens in den Schlaf dem Ticken zu lauschen, das mir versichert, dass die Zeit noch nicht stehengeblieben ist.

Das ist also – um genau zu sein – eine Ode an eine mechanische Uhr in der Nacht.

Walking around

Donnerstag, den 15. März 2007

laundry time... © 2007 by patrickbateman@deviantart.com

Es geschieht, daß ich müde bin, Mensch zu sein!
Ich trete in Schneiderstuben, in Kinos
schlapp, undurchdringlich wie ein Schwan aus Filz,
der auf einem Wasser aus Ursprung und Asche treibt.

Der Geruch des Frisiersalons läßt mich laut schluchzen.
Ich möchte nichts weiter als eine Ruhe von Steinen oder Wolle,
ich will keine Verordnungen, keine Gärten mehr sehen,
keine Waren, keine Brillen, keine Fahrstühle.

Es geschieht, daß ich überdrüssig meiner Füße, meiner Nägel bin,
und meines Haars und meines Schattens!
Ich bin es müde, Mensch zu sein.

Dennoch wäre es köstlich,
einen Notar mit einer ausgerauften Lilie zu erschrecken
oder eine Nonne mit einer Ohrfeige umzubringen.
Es wäre wunderbar,
mit einem grünen Messer durch die Straßen zu laufen
und Lärm zu schlagen, bis man tot umfällt vor Kälte.

Ich mag nicht mehr Wurzel sein in der Finsternis,
schwankend, ausgestreckt, zitternd vor Schläfrigkeit,
abwärts immer, ins nasse Eingeweid der Erde,
saugend und sinnend, essend Tag um Tag.

Ich mag soviel Unheil nicht für mich.
Mag nicht weiterhin Wurzel sein und Grab,
verlassener Schacht, Kellergewölb mit Toten,
kältestarr, vor Leid zugrunde gehend.

Darum flammt der Montag wie Erdöl auf,
wenn er mich kommen sieht mit meinem Kerkergesicht,
und er heult in seinem Verlauf wie ein wundes Rad
und macht Schritte von heißem Blut der Nacht entgegen.

Und er treibt mich in manche Winkel, in manch feuchte Häuser,
in Spitäler, wo die Knochen durch die Fenster herauskommen,
in manche Schusterstube, die nach Essig riecht,
in Straßen, erschreckend wie Erdrisse.

Es gibt Vögel, schwefelfarbig, und gräßliches Gedärm,
die an den Türpfosten der Häuser hängen, die ich hasse.
Es gibt Gebisse, in einer Kaffeekanne vergessen,
es gibt Spiegel,
die hätten weinen müssen vor Scham und Entsetzen,
Schirme gibt es allerorts und Gifte und Nabelschnüre.

Und ich schlendre umher, mit Gelassenheit, mit Augen, mit Schuhen,
mit Wut, mit Vergessen,
ich geh vorüber, quere Amtsstuben und orthopädische Läden,
und Höfe, wo an einem Draht Wäsche hängt:
Unterhosen, Handtücher und Hemden, die langsame
schmutzige Tränen weinen.

Pablo Neruda
Übertragung: Erich Ahrendt

••• Weiter gehts mit Don Pablo. Ich hatte ja angedroht, ein paar Entdeckungen zu präsentieren, Gedichte, in denen es weniger odenhaft zugeht. Dieses hier hat es mir besonders angetan.

Die Nacht des Soldaten

Dienstag, den 13. März 2007

Pablo Neruda

Ich lebe die Nacht des Soldaten, die Zeit des Mannes ohne Schwermut, ohne Untergang, des vom Ozean oder einer Woge in die Ferne geworfenen Sinnbilds, und der nicht weiß, daß das bittere Wasser ihn abgesondert hat und daß er allmählich und furchtlos altert, ausersehen für das normale Leben ohne Erschütterungen, ohne Abwesenheiten, in seiner Haut und seinem Kleid dahinlebend, wahrhaft dunkel. So also werde ich mit dummen und fröhlichen Kameraden zusammen gesehen, die rauchen und spucken und entsetzlich saufen und plötzlich todkrank zusammenbrechen. Denn wo sind Tante, Braut, Schwiegermutter und Schwägerin des Soldaten? Wahrscheinlich gehen sie an Ostrazismus oder an Malaria zu Grunde und werden kalt und gelb und wandern aus nach einem Gestirn aus Eis, nach einem jungen Planeten, um endlich auszuruhen, unter jungen Mädchen und glazialen Früchten, und ihre Leichen, ihre armen Leichen aus Feuer werden fern der Flamme und der Asche schlummern, von Alabasterengeln bewacht.


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Amor América (1400)

Montag, den 12. März 2007

Pablo Neruda (1966)

Vor Perücke und Seidenfrack
waren die Ströme, Ströme arterienhaft,
waren die Kordilleren, auf deren kahler Welle
der Kondor und der Schnee unbeweglich schienen:
war die Feuchte und das Dickicht, der noch
namenlose Donner, die Planetensteppen.

Erde war der Mensch, Gefäß, Lidschlag
des zitternden Lehms, Gebild aus Ton,
war karibischer Krug, Chibcha-Stein,
kaiserlicher Pokal oder araukanischer Kiesel.
Zart und grausam war er, aber in den Knauf
seiner Waffe, aus benetztem Kristall
waren eingezeichnet
der Erde Initialen.
der Erde Initialen.Niemand vermochte
später sich ihrer zu erinnern: der Wind
vergaß sie, die Sprache des Wassers
wurde verscharrt, die Schlüssel gingen verloren
oder wurden von Schweigen überflutet oder Blut.

Nicht verloren ging das Leben, hirtenhafte Brüder.
Doch einer wilden Rose gleich
fiel ein roter Tropfen ins Dickicht,
und eine Erdenlampe erlosch.

Ich bin hier, der Geschichte Lauf zu erzählen.
Vom Steppenfrieden des Büffels
bis zu den gepeitschten Gestaden,
wo die Erde endet, in den angehäuften
Schäumen des antarktischen Lichts
und in den steilabstürzenden Felshöhlen
des düsteren venezuelischen Schweigens
suchte ich dich, mein Vater,
junger Krieger aus Dunkelheit und Kupfer,
oder dich, bräutliche Pflanze, Haarflut unbändig,
Kaimanenmutter, metallische Traube.

Ich, Inkamächtiger des Schlammes,
rührte an den Stein und sprach:
Wer
erwartet mich? Und preßte die Finger
um eine Handvoll tauben Kristalls.
Aber zwischen Zapotecablüten schritt ich,
und sanft wie ein Edelwild war das Licht
und der Schatten ein grünes Augenlid.

Du mein Land ohne Namen, ohne Namen Amerika,
der Äquinoktien Blütenfaden, Purpurlanze,
dein Duft klomm auf zu mir durch die Wurzeln
bis zur Schale, die ich leerte, bis zum zartesten
Wort, noch ungeboren von meinem Mund.

Pablo Neruda


Pablo Neruda spricht: Amor América (1400)


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