Das Loch in der Mitte des Kringels

Freitag, den 30. Mai 2008

Alexander Osmerkin: Ossip Mandelstam
Alexander Osmerkin: Ossip Mandelstam

So sehr ich mich auch anstrengen mag, und selbst wenn ich Pferde auf meinem Rücken tragen würde und Mühlsteine drehen machte, werde ich dennoch nie ein Werktätiger sein können. Meine Arbeit wird, wie immer sie sich äußern möge, als Ungezogenheit aufgenommen, als Gesetzlosigkeit, als etwas Zufälliges. Ich unterschreibe mit beiden Händen.

Hier ein anderer Zugang: für mich ist beim Kringel das Loch in der Mitte von Wert. Doch was ist dann mit dem Kringelteig? Den Kringel kann man wegknabbern, das Loch jedoch besteht weiter. Wirkliche Arbeit ist eine Brüsseler Spitze – das Wichtigste an ihr ist das, worauf das Muster sich hält: Luft, Durchstiche, Atempausen.

Ossip Mandelstam: aus: „Vierte Prosa“

Ich hab das Wort vergessen

Sonntag, den 29. Juli 2007

Ich hab das Wort vergessen, das ich sagen wollte.
Ins Schloss der Schatten kehrt die Schwalbe blind zurück
Zerschnittnen Flügels, mit den Durchsichtigen zu spielen.
Im Nichterinnern singt man ein nächtliches Lied.

Die Vögel unhörbar. Die Immortelle blüht nicht.
Die Mähnen durchsichtig der Abendherde dort.
Ein leerer Nachen schwimmt auf trockenen Flüssen.
Unter Heuschrecken tobt erinnerungslos das Wort.

Und wächst sacht an, als wär es Zeltdach oder Kirche
Stößt jäh als wahnsinnige Antigone vorbei
Und stürzt als tote Schwalbe sich zu Füßen
Mit stygischer Zärtlichkeit und einem grünen Zweig.

O brächte man die Scham der sehenden Finger wieder
Und des Erkennens aufgewölbte Freude.
Ich fürchte so die Klage-Aoniden
Den Nebel und das Klaffen und das Läuten.

Doch Sterblichen ist Macht zu lieben und zu wissen
Für sie ists, daß der Klang sich in die Finger goß
Doch was ich sagen wollte, habe ich vergessen
Körperlos der Gedanke kehrt ins Schattenschloß.

Immer verfehlts der durchsichtige, bleich…
Immer die Schwalbe, Antigone, die Freundin…
Doch auf den Lippen brennt wie schwarzes Eis
Erinnerung an das stygische Läuten.

Ossip Mandelstam (1920)
Nachdichtung: Rainer Kirsch

••• Als Beispiel dafür, wie eine Nachdichtung ein nahezu völlig anderes Gedicht erschaffen kann: hier die Übertragung von Rainer Kirsch zum Mandelstam-Gedicht vom letzten Freitag. Obgleich ich bekennender Celan-Fan bin, fällt es mir schwer, seiner Übertragung ganz vorbehaltlos den Vorzug zu geben. Beide Varianten überzeugen mit starken eigene Übertragungsideen. Gerade deswegen war ich froh, in dem erwähnten Band beide Nachdichtungen präsentiert bekommen zu haben.

Das Wort bleibt ungesagt

Freitag, den 27. Juli 2007

Osiip Mandelstam
Ossip Mandelstam (1891-1938)

Das Wort bleibt ungesagt, ich finds nicht wieder,
Die blinde Schwalbe flog ins Schattenheim,
Zum Spiel, das sie dort spielen. (Zersägt war ihr Gefieder.)
Tief in der Ohnmacht, nächtlich, singt ein Reim.

Die Vögel — stumm. Und keine Immortelle.
Glashelle Mähnen — das Gestüt der Nacht.
Ein Kahn treibt, leer, es trägt ihn keine Welle.
Das Wort: umschwärmt von Grillen, unerwacht.

Und wächst, wächst wie es Tempeln, Zelten eigen,
Steht, jäh umnachtet, wie Antigone,
Stürzt stygisch-zärtlich und mit grünem Zweige,
Als blinde Schwalbe stürzt es nieder, jäh.

Beschämung all der Finger, die da sehen,
O die Erkenntnis einst, so freudenprall.
O Aoniden, ihr — ich muß vor Angst vergehen,
Vor Nebeln, Abgrund, Glockenton und Schall.

Wer sterblich ist, kann lieben und erkennen,
Des Finger fühlt: ein Laut, der mich durchquert…
Doch ich — mein Wort, ich weiß es nicht zu nennen,
Ein Schemen war es — es ist heimgekehrt.

Die Körperlose, immer, Stund um Stunde,
Antigone, die Schwalbe, überall…
Wie schwarzes Eis, so glüht auf meinem Munde
Erinnerung an Stygisches, an Hall.

Ossip Mandelstam (1920)
Nachdichtung: Paul Celan

••• Ach, wieder so einen alten DDR-Reclam-Schatz ausgegraben. Von Mandelstam wird noch mehr zu berichten sein. Der Clou an dieser Ausgabe, einer Sammlung von 80 Gedichten aus seinem Gesamtwerk: Viele Gedichte werden neben dem Original in verschiedenen Nachdichtungen präsentiert.