Tote unter Lebenden

Montag, den 28. Mai 2007

••• Markus A. Hediger gehörte zu den Schlüsselversteckern, als ich die Online-Präsentation des „Anderen Blau“ vorbereitete. Er hat das Projekt verfolgt und im Nachhinein mehrmals das Manuskript gelesen. Auf „Hanging Lydia“ berichtet er heute von seiner Erfahrung mit diesem Text.

Seine Besprechung freut mich nicht nur, weil sie die erste ist. Was mich heute besonders bewegt, ist der Umstand, dass ich nun nach langer Zeit und vielen Zweifeln sicher weiss, dass es Leser gibt für dieses Buch, für diese Art Prosa. Ich wollte keine Kompromisse machen, keine Andienung betreiben. Das macht die Lektüre nicht leicht, aber nicht unmöglich. Verstanden worden zu sein, ist eine wundervolle Sache. In den über 200 Besprechungen, die zum „Alphabet des Juda Liva“ erschienen sind, hat sich grad ein Rezensent ähnlich intensiv mit dem Text auseinandergesetzt, wie Markus A. Hediger es hier unternimmt.

Mir macht das Mut für die weitere geduldige Suche nach einem Verlag.

Bevor das Script zum Buch wird, werde ich jedoch noch eine Danksagung anfügen. Gewidmet ist das „Blau“ N., dem Alter Ego von Nadia, weil sie die Inspiration war, den Versuch nochmals zu unternehmen, den Stoff in dieser Art zu bearbeiten. Allein aus diesem Grund will ich es bei dieser Widmung belassen. Meiner Frau allerdings habe ich es zu verdanken, dass das „Andere Blau“ überhaupt lesbar geworden ist. Ihrem Rat folgend habe ich die einzelnen Passagen mit den Namen der sprechenden Figuren versehen und den von Markus A. Hediger zitierten – ursprünglich als Exposé und eventuellen Klappentext gedachten – Text als Vorspann zum festen Bestandteil des Buches gemacht.

Wie sich nun beweist, hatte sie in beiden Fällen das viel bessere Gespür als ich.

Das Spiel mit den Wirklichkeiten

Freitag, den 25. Mai 2007

Ein Gastbeitrag von Markus A. Hediger
zu Jorge Luis Borges

••• Nicht alle Erzählungen von Borges untermauern seinen Ruf als herausragenden Autor. Nebst den phantastischen Geschichten, für die er bekannt wurde und durch die er Weltruhm erlangte, gibt es auch die vielen anderen. Diese Erzählungen sind solides Handwerk. Gut erzählt, stilsicher geschrieben, darin unverkennbar Borges, ja, aber nichts Aussergewöhnliches. Sie erzählen von Begebenheiten, die geschehen sein könnten, aber ebenso gut nicht, es sind Präzisierungen, vorgenommen durch einen Mann, der die durch den Volksmund verbreitete Folklore in eine literarische Form einpasst. Für den Leser ist es völlig belanglos, ob die berichteten Ereignisse tatsächlich geschehen oder Erfindung sind – während der Lektüre werden sie wahr und geben keinerlei Anlass, an ihnen zu zweifeln. Die Wirklichkeit des Berichteten ist die Wirklichkeit des Lesers. Ich denke da zum Beispiel an „Der Tote“, „Die Narbe“ oder „Die Geschichte des Rosendo Juárez“. Einigen seiner Erzählungen schreibt Borges persönlich eine realistische Qualität zu.

Und dann gibt es da die anderen Erzählungen, in denen die Wirklichkeiten ineinander greifen, ineinander wirken und die Wirklichkeit des Lesers – zumindest während der Zeit der Lektüre – in Frage stellt. „Das Aleph“, zum Beispiel, beginnt mit einer langatmigen Schilderung einer nervtötenden Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und einem Dichter furchtbar schwülstiger und pompöser Werke, man fragt sich als Leser, wohin die Erzählung führen soll, dann diese Passage:

Nun komme ich zum unsagbaren Mittelpunkt meines Berichts; hier beginnt meine Verzweiflung als Schriftsteller. Alle Sprache ist ein Alphabet aus Symbolen, deren Anwendung eine den Gesprächspartnern gemeinsame Vergangenheit voraussetzt; wie soll ich anderen das unendliche Aleph mitteilen, das mein furchtsames Gedächtnis kaum erfasst? […] In diesem gigantischen Augenblick habe ich Millionen köstlicher und grässlicher Vorgänge gesehen; keiner erstaunte mich so sehr wie die Tatsache, dass sie alle in demselben Punkt stattfanden, ohne Überlagerung und ohne Transparenz. Was meine Augen sahen, war simultan: was ich beschreiben werde, ist sukzessiv, weil die Sprache es ist.


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Depesche zu Borges

Montag, den 21. Mai 2007

••• Eben schickt mir Markus A. Hediger eine Depesche betreffs seiner Borges-Beiträge im Turmsegler:

Ich habe eben (in einem Prozess intensiver Selbstbefragung!) verstanden, weshalb Borges für mich so eng mit dem Christentum verbunden ist (o Schande über mich…): Ich entdeckte Borges während der heftigsten Phase meiner Glaubenskrise, und da wirkte er auf mich wie eine Erlösung…

Bitte lösch meine bisherigen Gastbeiträge. Ich schreibe neue…

Die alten Beiträge zu löschen, das kann ich freilich nicht billigen. (g*) Auf die neuen Beiträge freue ich mich hingegen sehr. „Aufräumarbeiten“ stünden an im eigenen Borges-Verständnis. Er berichtet sicher selbst auf „Hanging Lydia“ davon.

Die Scheibe

Montag, den 14. Mai 2007

Ein Gastbeitrag von Markus A. Hediger
zu „Die Scheibe“ von Jorge Luis Borges

Crowley Tarot - Ace of Discs••• Ich fürchte, ich bin mit meinem ersten Beitrag über die Begegnung mit dem Phantastischen in Borges Erzählungen zu forsch vorgeprescht und habe es versäumt (wie in den Kommentaren von Michael Perkampus auch zu recht moniert wurde) den Begriff des Phantastischen bei Borges enger einzufassen. Ich will dies anhand der sehr kurzen Erzählung „Die Scheibe“ nachholen. Darin spielt Religion nur am Rande eine Rolle, was mich vor eben jenen Ausschweifungen bewahren wird, die mich in Teufels Küche bringen. Sie veranschaulicht aber sehr genau, was das Phantastische bei Borges ausmacht. Ich werde eine Definition in meiner Rolle als Leser versuchen – nicht als Germanist und ohne Rückgriff auf eine der zahlreichen Literaturmodelle, die es zur Phantastischen Literatur gibt. Bei Borges geht es immer auch um das Lesevergnügen. Wer Spass an der Lektüre hat, hat den Weg in den Text hinein schon gefunden. Dort muss er sich lediglich umsehen, um zu erkennen, worin sein Reiz liegt. Lesen, eintauchen, schauen, Spass haben: das ist die Methode, die ich hier anwenden möchte.


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Zimzum und Urknall

Sonntag, den 13. Mai 2007

Eine Antwort an Markus A. Hediger in Hanging Lydia

••• Lieber Markus, zunächst muss ich anmerken, dass ich – obgleich orthodoxer Jehudi – doch kein Dogmatiker bin. Das Judentum hat keine zentrale, dogmengebende Instanz; und ich sage an dieser Stelle bewusst nicht, sie würde fehlen. Insofern erscheint mir der flammend geführte Streit zwischen Kreationisten und Evolutionisten nicht nur selbstherrlich, sondern auch ganz und gar unfruchtbar. Der Streit verkennt, dass beide „Fraktionen“ den Beweis ihrer jeweiligen Urannahme schuldig bleiben müssen. Wären die Mystiker – gleich welcher Couleur – lediglich Dogmen gefolgt, hätten sie sich nur mit jener Kategorie Fragen beschäftigen können, wie viele Erzengel etwa Platz fänden auf einer Nadelspitze.

Meine grösste Frage, die sich aus Deinem Beitrag ergibt, ist: Du beschreibst Schöpfungsmethoden, die einen bereits existierenden Raum voraussetzen. Wird dies in der jüdischen Mystik so gesehen? War die Welt (ganz materiell gesehen) schon immer? Und wird Gott als jener betrachtet, der als erster von ihr „erzählte“?

Zur Antwort auf Deine Frage: Nein, so war das nicht gemeint. Wenn ich sage „Was ich erzähle, geschieht“, rede ich vom Jetzt und Hier. Ich meine nicht, dass die „Welt (ganz materiell gesehen) schon immer“ war und G’tt lediglich als „erster von ihr erzählte“.

Der Sohar – ein deutlich jüngeres mystisches Werk als das Sefer Yetzirah – beschreibt den „Vorspann der Genesis“ als einen den Urknall-Theorien verblüffend ähnlichen Vorgang, der als Zimzum bezeichnet wird.


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