Herr Grau zerfällt zu Asche

Montag, den 15. Februar 2010

»Graupausen« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

… translation always involves hindrances …
Adel Salem Bahameed
in: »Arabic-English Intercultural Translation«

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Seit Herr Grau den Entschluss gefasst hat, die Übersetzung seines Ichs voranzutreiben, ertappt er sich vermehrt dabei, wie er sich wünscht, es hätte ihn nicht nach Bruanien, sondern in ein anderes Land verschlagen. Zum wiederholten Mal ist es ihm jetzt schon passiert, dass er eine seiner Eigenschaften in die Landessprache übertragen wollte und sich plötzlich um Aspekte erweitert sah, in denen er sich nicht wiedererkannte.
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Übersetzte Identität

Donnerstag, den 11. Februar 2010

••• Als mein Großvater 1933 auf Schleichwegen Deutschland verließ, hatte er nur noch seine Mutter, die ihn an der Hand hielt, und die Sachen, die er am Leib trug. Er trug freilich auch Erinnerungen mit sich, etwa an seinen Vater, wenige Tage zuvor in der Nacht abgeholt und totgeschlagen. Und natürlich hatte er die deutsche Sprache, die einzige, die er verstand. Auch seine Mutter und seine Sprache hätte er verlieren sollen, wäre es nach dem Willen der »Gastgeber« im Exil-Land gegangen.

Er kam in die Sowjetunion. Stalin misstraute den deutschen Exilanten, und so trennte man die Kinder von den Eltern, um wenigsten sie noch zu loyalen Sowjetkommunisten erziehen zu können. Man schickte die Kinder ins »Allunions-Pionierlager Artek«. Deutsch zu sprechen, war dort verboten. Die Sprache des Feindes abzulegen und ins Russische einzutauchen, war elementarer Bestandteil des Umerziehungsprozesses.


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Herr Grau übersetzt

Mittwoch, den 10. Februar 2010

»Graupausen« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

… the very act of translation always involves change and domestication.
Riitta Oittinen
in: »Translating for Children«

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Herr Grau ist ein unscheinbares Männlein. Das war nicht immer so. Früher, da war er anders gewesen. Ein Mann. Zwar nicht gerade eine imposante Erscheinung, das nun auch wieder nicht. Keiner, der, betrat er einen Raum, alle Blicke auf sich zog. Aber einer, der seine Meinung kundzutun und sich Gehör zu verschaffen verstand. Einer, der nicht nur in Schwarz und Weiß zu denken vermochte, sondern auch den Zwischentönen zu ihrem Recht verhalf. Heute ist er zu einem Männlein verkommen. Grau geworden, im – nicht auf dem – Kopf, ein Zwischenton.
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Rodrigues an der Ampel

Freitag, den 28. August 2009

»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

Gestern ist mir Nelson Rodrigues wieder über den Weg gelaufen.

Ich hatte eine Verabredung um halb zehn. Da ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln dieser Stadt noch nicht vertraut bin und nur schlecht einschätzen kann, wie lange ich von A (meinem Zuhause) nach B (meiner Verabredung) brauche, brach ich an diesem Morgen kurz nach acht auf. Zu meiner Überraschung stand ich eine halbe Stunde später schon vor der gesuchten Tür. In Brasilien gehört es sich nicht, zu früh zu kommen. Also schlenderte ich weiter und fand mich nach fünf Minuten am Strand von Copacabana wieder. Es war ein herrlicher Morgen, die Sonne schien, einige Senioren spielten Strandvolley, ein paar wenige Frauen joggten die Promenade entlang. Ich setzte mich an eine Strandbar und bestellte einen frischgepressten Orangensaft.

Wie jeder, der nach einer längeren Absenz wieder nach Hause zurückkehrt und sich die lokalen Gepflogenheiten wieder angewöhnen muss, fühlte auch ich mich wie ein Fremdkörper in dieser Stadt. Das bevorstehende Treffen machte mich nervös, es war wichtig, dass ich die Gelegenheit, die sich mir bot, nicht durch einen kulturellen Fauxpas oder eine ungewollte Unhöflichkeit verspielte.

Es war jetzt viertel nach neun. Zeit also, aufzubrechen. An einem Fußgängerstreifen musste ich warten, bis die Ampel für den dichten Verkehr auf rot umschaltete. Neben mir stand eine alte Frau in Begleitung ihrer Betreuerin und wies mit ihrem Gehstock auf den vorbeibrausenden Verkehr.

»Es sind so viele!« rief die alte Dame aus. »Es sind so viele!«


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Der freundliche Gast

Mittwoch, den 26. August 2009

»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger


Foto aus dem Archiv von Werner Hediger

Lacerda beobachtete liebevoll seinen Schüler, der hungrig mit beiden Händen in den Teller griff und sich, wie das hier im brasilianischen Inland Sitte war, die Reisbällchen mit dem Daumen von der Handfläche in den Mund schob. Er reichte ihm eine Gabel und brachte ihm geduldig bei, wie sie zu bedienen war.

»Ein Politiker macht sich die Hände nie schmutzig«, belehrte Lúcio Lacerda den jungen Antônio Carlos Murillo schmunzelnd. »Das erste, was du lernen musst, ist, mit Besteck zu essen.«

Das war vor dreißig Jahren.
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Encontros e despedidas

Freitag, den 21. August 2009

»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

Milton Nascimento
Milton Nascimento (* 1942)

Jede Ankunft ist auch ein Abschied, jede Begegnung nimmt die Trennung schon vorweg, sang Milton Nascimento 1985 und in den Jahren danach. Das Lied des kleinen schwarzen Sängers aus Rio de Janeiro begleitete mich durch meine Jugend in São Paulo. Es wurde zum sound track meiner ersten Liebe, musikalisch untermalte es den Verlust dieser Liebe. Als ich Ines gestand, dass ich sie nicht mehr liebte, verpasste sie mir eine Ohrfeige, und das Radio spielte Milton Nascimentos »Encontros e despedidas«. Ankunft und Abschied sind Beginn und Ende derselben Reise, sang es aus den Boxen ihres VW-Käfers. Ines wollte einen letzten Kuss. Wir hätten uns, sagte ich ihr, zum Abschied schon geküsst. Vor zwei Jahren, in diesem selben VW-Käfer. Erinnerst du dich nicht mehr an unseren ersten Kuss? Wenn unsere erste Begegnung diesen Moment der Trennung schon in sich getragen hatte, dann unser erster Kuss auch schon den letzten.


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Die verbrannte Hand

Freitag, den 14. August 2009

»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

Clarice Lispector
Clarice Lispector (1920-1977)

Clarice Lispector, grande dame der brasilianischen Literatur des 20. Jahrhunderts, muss ein schwieriger Charakter gewesen sein. Keine ihrer Freundschaften hielt lange, niemand hielt es auf Dauer in ihrer Nähe aus. Sie galt als unberechenbar, und mit der Wahrheit nahm sie es nicht sehr genau. Mal erzählte sie eine Geschichte so, dann wieder anders. Und wenn man glaubte, den Schleier endlich gelüftet und eine ihrer Unwahrheiten zweifelsfrei entlarvt zu haben, sah man sich nur von einer weiteren Finte hinters Licht geführt. Zudem interessierte sie sich sehr fürs Okkulte und umgab sich Zeit ihres Lebens mit Kartenlegern und Wahrsagern, weshalb sie auch gelegentlich »die Große Hexe der brasilianischen Literatur« genannt wurde. Eines Nachts hatte sie sich mit einer brennenden Zigarette ins Bett gelegt und war kurz darauf in einer Feuerhölle erwacht. Sie konnte sich retten, zog sich aber schwere Verbrennungen an ihrer Hand zu, die sie fortan wie eine schwarze Klaue vor sich hertrug.


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