Fiktion braucht den Tod

Freitag, den 16. Juli 2010

Es geht schließlich darum zu begreifen, dass jeder Versuch einer Selbstfindung immer in einer Selbst-Erfindung mündet. Hediger erzählt nicht von sich, sondern das erzählende »Ich«, das Markus A. Hediger heißt, erzählt sich, d.h. es erschafft sich schreibend als einen Anderen. Daher gehen diese »Autobiographischen Fiktionen« unweigerlich durch diese Verstörung: »Ich weiß nicht mehr, wer ich bin.«

••• Mit großer Freude habe ich in den »Gleisbauarbeiten« von MelusineB die Rezension zum »Krötenkarneval« von Markus A. Hediger gelesen. Das hat mehrere Gründe.

Zum ersten bin ich immer froh, wenn bloggende Autoren sich in ihren Weblogs intensiv mit Veröffentlichungen anderer Autoren auseinandersetzen, wie es – für mein Gefühl – noch zu selten geschieht. Zum zweiten formuliert die Rezension deutlicher, als ich es je hätte tun können, warum ich dieses Buch in der Edition Neue Moderne herausgeben wollte, ja musste. Und drittens schließlich freut mich, dass Hedigers Text in dieser Rezensentin eine so aufmerksame und analytische Leserin gefunden hat.

»Krötenkarneval« ist die Geschichte eines Mordes. Zu Tode kommt: der »Ich-Erzähler«.

Nachzulesen ist die Rezension nebenan bei MelusineB.

Oulipo oder Hunderttausend Milliarden Gedichte

Sonntag, den 2. Mai 2010

••• »Oulipo« ist ein Akronym. Es steht für »L‘ Ouvroir de Littérature Potentielle«, also »Werkstatt für Potentielle Literatur«. Es bezeichnet auch einen Autorenkreis, gegründet 1960 von François Le Lionnais und Raymond Queneau, dem sich Surrealisten ebenso anschlossen wie Mitglieder des logenartigen »Collège de ’Pataphysique« und die Mathematiker des Kollektivs »Nicolas Bourbaki« (ein Gemeinschaftspseudonym).

Die Potentielle Literatur basiert auf dem Credo: Kein Spiel ohne Regeln. Nun könnte man sagen, Sprache an sich sei bereits ein Regelwerk. Mag sein, antworten die Oulipiens, aber: Die Festlegung von Regeln, die (auch) über das System Sprache hinausgehen (also etwa Vokabular oder Grammatik), würden durch bewusste Beschränkung einen neuen Verständnishorizont eröffnen. Die Regeln können mathematischer Natur sein (daher das Interesse der Mathematiker) oder auch poetologisch.


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Brief an die Heimat

Mittwoch, den 7. April 2010

»Graupausen« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

Lieber Vater,

Ich habe mir eine neue Gewohnheit angeeignet. Nein, keine Bange. Die Finanzen sind unter Kontrolle. Ein Päckchen Zigaretten kostet in Bruanien in etwa so viel wie zu Hause ein Mineralwasser im Supermarkt.

Obwohl die Rauchware auch im Vergleich mit hiesigen Einkünften sehr preiswert ist, sieht man auf der Straße kaum einen Bruanier mit einer Zigarette im Mund. Zigaretten werden im Freundeskreis geraucht oder aber alleine in den eigenen vier Wänden in einem Moment der Muße, nie jedoch öffentlich.

Den Bruanien gilt die Zigarette nicht als Sucht-, sondern als Genussmittel. Bemerkenswert ist auch die Art und Weise, wie die Zigarette geraucht wird: Die Aufmerksamkeit gilt nicht so sehr dem Rauch, der von ihrer Spitze aufsteigt oder tief in die Lungen hinab gesogen wird, sondern der Asche.


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Herr Grau muss sich bedanken

Montag, den 29. März 2010

»Graupausen« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

… translation always involves painstaking negotiation…
Yifeng Sun
in: »Re-creating literary texts through cross-cultural translation«

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Aus seiner Schulzeit weiß Herr Grau noch, dass es Kulturen gibt, in denen die Art und Weise, wie ein Geschenk verpackt und überreicht wird, mehr über die Beziehung zwischen Schenkendem und Beschenktem verrät als das Geschenk an sich: erst durch die zeremonielle Aufbereitung des Geschenks erhält dieses seine Bedeutung. In anderen Kulturen wiederum ist das Entfernen des Preisschilds von eminenter Wichtigkeit, obwohl es gerade die Höhe des Kaufpreises ist, die den symbolischen Wert des Preisgegebenen bestimmt.

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Auch die Bruanier beschenken sich gern, unterscheiden dabei aber grundsätzlich zwischen Anstands- oder Gefälligkeits- und Herzensgeschenken. Erstere haben nutzlos und lediglich hübsch zu sein. Dem Auge Angenehmes zu bieten, wird als Zeichen von Respekt verstanden. Herr Grau kann dies nachvollziehen, er hat kulturellen Eigenheiten schon immer großes Verständnis entgegengebracht. Schon als Kind liebte er Bücher, die von fernen Ländern und den ausgefallenen Gepflogenheiten ihrer Völker erzählten. Doch dem, womit er sich jetzt konfrontiert sieht, ist mit Verständnis allein nicht beizukommen. Er muss etwas unternehmen, die Situation einfach auszusitzen, kann er sich nicht erlauben. Aber was tun? Er steht, in der einen Hand noch das Geschenkpapier und unfähig, sich von der Stelle zu rühren, in der Mitte seines Wohnzimmers. In der anderen Hand hält er einen Aschenbecher.


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Herr Grau schnappt nach Luft

Freitag, den 5. März 2010

»Graupausen« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

… translation always involves an encounter, if not a confrontation…
Rainer Kohlmayer
in: »Der Literaturübersetzer zwischen Original und Markt«

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Herr Grau hat der befremdlichen Begegnung mit seiner Heimat im Institut für Kulturvermittlung und –förderung nach einigem Ringen etwas Positives abgewinnen können: Wenn, so fragt er sich, ich mich in meiner eigenen Heimat nicht mehr Zuhause fühle, bedeutet das nicht, dass ich mit meinem Übersetzungsprojekt weiter vorangeschritten wäre, als ich dachte? Bruanien und die Lebensart seiner Bewohner muss mir bereits ein bisschen ans Herz gewachsen sein, sonst hätte ich mich doch nicht wie ein Fremder auf heimischem Boden gefühlt? Dieser Befund ermutigt Herrn Grau, und voller Elan beschließt er, seine Übersetzung nun noch dezidierter – und vor allem systematisch – voranzutreiben.


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