Die Kinder der Toten gehen spielen

Samstag, den 24. Oktober 2009

Guillaume Apollinaire, la colombe poignardée et le jet d'eau.
Guillaume Apollinaire, la colombe poignardée et le jet d’eau.

Die Kinder der Toten gehen spielen
Auf dem Friedhof mit Marmor und Zypressen.
Die alten Frauen
Kommen hierhin um zu weinen.
Das ist der Tag der Toten und aller ihrer Seelen.
Die Kinder und die alten Frauen
Zünden Talglichter und Kerzen an
Auf jedem katholischen Grab.
Die Kopftücher der Alten
Die Wolken am Himmel
Sind wie Ziegenbärte
Die warme Luft lässt den Horizont des Friedhofs zittern
Wo frische Blumenbestecke heute jeden Stein schmücken
Die Luft zittert von Flammen und Gebeten.
Ah! dass es heute regnet
Die Tränen dieser Toten
Um die Flammen auszulöschen.
Dass doch diese Toten wiederkehren
Und ihr Totentanz
Um die Frauen zum Lachen zu bringen.
Dass sie alle von Ihren Bahren steigen:
Die Kluge Jungfrau und die Hure,
Die Bettler im Bierrausch verschieden,
Die Blinden blind wie das Schicksal
Und die hübschen jungen Gefallenen
Und die Kinder beim Beten gestorben,
Die Bürgermeister, die Schiffer
Und die Regierungsräte
Und die Zigeuner ohne Papiere.
Das Leben verfault ihnen im Bauch
Das Kreuz wächst zwischen ihren Füßen
Dass sie doch alle im Tanz wiederkehren.
Der Wind braust um die unbewegten Zypressen.
Die Kinder zünden die ausgelöschten Kerzen wieder an.
Und welke Blätter
Bedecken jetzt die Toten.
Der Wind vom Rhein heult zusammen mit dem Käuzchen.
Tote Kinder sprechen manchmal mit ihren Müttern
Und Tote möchten manchmal gerne zurückkehren.
– Oh! ich möchte nicht dass du herauskommst
Der Herbst ist voller abgeschlagener Hände
– Nein, nein das sind doch welke Blätter
– Das sind die Hände der lieben toten Frauen
Das sind deine Hände, deine abgeschlagenen Hände.
Die Flammen zittern auf dem Friedhof bis in die Nacht.
Wir haben heute so viel geweint
Mit diesen Toten, ihren Kindern und den alten Frauen,
Unter dem sonnenlosen Himmel
Auf dem Friedhof voller Flammen.
Im Wind sind wir dann von dort zurückgegangen.
Die Kastanien rollten unter unseren Füßen
Wie Herzen toter Frauen.
Die Stachelschalen der Kastanien
Waren wie das verwundete Herz der Muttergottes
Von der man nicht weiß ob ihre Haut
Die Farbe der Kastanien im Herbste hatte.
Mit sieben Schmerzen sind Schalen und Herzen gespickt.
Die Herzen der Frauen und der Männer,
Herzen mit Versen bespickt die sich im Faulen vereinen
O Herz der Toten.

Guillaume Apollinaire (1880-1918)
(entstanden 1901, veröffentlicht 1909 in »La Voile de Pourpre«)

••• Die Herzdame zeichnet wieder, was mich sehr freut. Letztens mühte sie sich eine ganze Nacht lang über einem aufwendigen Muster. Ganz abgesehen davon, dass mich die Blumen tatsächlich ablenkten von der devot Knieenden, fiel mir auch später nicht auf, dass die Dame nicht mit Linien gezeichnet ist sondern aus Worten eines Gedichtes. Das fiel mir ein, als ich die gezeichneten Gedichte Apollinaires sah.


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Unterm Pont Mirabeau

Donnerstag, den 22. Oktober 2009

Pont Mirabeau, Paris
Pont Mirabeau, Paris

Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine.
Was Liebe hieß,
muß ich es in ihr wiedersehn?
Muß immer der Schmerz vor der Freude stehn?

Nacht komm herbei, Stunde schlag!
Ich bleibe, fort geht Tag um Tag.

Die Hände, die Augen geben wir hin.
Brücken die Arme,
darunter unstillbar ziehn
die Blicke, ein mattes Fluten und Fliehn.

Nacht komm herbei, Stunde schlag!
Ich bleibe, fort geht Tag um Tag.

Wie der Strom fließt die Liebe, so
geht die Liebe fort.
Wie lang währt das Leben! Oh,
wie brennt die Hoffnung so lichterloh!

Nacht komm herbei, Stunde schlag!
Ich bleibe, fort geht Tag um Tag.

Wie die Tage fort, wie die Wochen gehn!
Nicht vergangene Zeit
noch Lieb werd ich wiedersehn!

Unterm Pont Mirabeau fließt die Seine.
Nacht komm herbei, Stunde schlag!
Ich bleibe, fort geht Tag um Tag.

Guillaume Apollinaire (1880-1918)
Nachdichtung: Hans Magnus Enzensberger

••• Eben spielte die Herzdame eine ungeheuer dramatische Rezitation ab. Ich fühlte mich erinnert an Neruda. Aber es war Französisch: Guillaume Apollinaire.

Diese Hörprobe sei aber noch aufgeschoben. Stattdessen gönnen wir uns mal ein Chanson…


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