Sichtbar werden

Dienstag, den 25. Januar 2011

Nein, ich fürchtete damals, so leicht konnte es nicht gewesen sein, und heute weiß ich es. Wolsey hat uns vor Gedanken gewarnt. Mit Gefühlen steht es nicht besser. Am schlimmsten ist es mit Gedanken, die aus Gefühlen aufsteigen, sich im Kopf einnisten und schließlich ins Unbewusste sinken. Sie wieder auszutreiben, ist nahezu aussichtslos.


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Bride Groom Treatment

Sonntag, den 23. Januar 2011

Pedicure

Als erstes ging ich zum Friseur. Danach kaufte ich ein: Schuhe, zwei Anzüge, Hemden und Manschettenknöpfe, Krawatten, Socken, Unterwäsche. Ich würde noch einmal gehen müssen, die nötigen Anschaffungen über die kommenden Monate verteilen. Dann kam der schwierigste Part: Ich erkundigte mich bei einer ehemaligen Kommilitonin nach einem Spa. Sie empfahl mir einen Salon in meiner Nähe, von dem sie Gutes gehört hatte.

Ich rief an, um einen Termin zu machen, aber ich konnte nicht sagen, was ich eigentlich wollte. Das Angebot an Behandlungen war überwältigend, und ich hatte keine Ahnung, was sich hinter Begriffen wie Waxing und Peeling oder hinter Fango-, Ölguss- und Lavasteinbehandlungen verbarg. Ich stammelte umständlich etwas Blumiges von der Notwendigkeit einer Häutung, natürlich im übertragenen Sinne und so weiter, und dass ich es mir einfach einmal gut gehen lassen wolle. Am liebsten hätte ich sofort wieder aufgelegt. Aber Nee antwortete ganz unbekümmert, als würde sie täglich in Beautydingen ahnungslose Männer beraten, das sei gar kein Problem. Ich solle viel Zeit mitbringen, einen halben Tag Minimum, und fünfhundert Dollar etwa, und dann würde man vor Ort schon das Richtige für mich finden.


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Kolibri und Nymphe

Freitag, den 21. Januar 2011

Manteles Kolibri
Manteles Kolibri • © M. Rietze (2008)

Jener Mann, der mit freudiger Neugier auf mich zukam, erschien mir zunächst wie eine Karikatur, eine erbarmungslose Überzeichnung. Er war mit einem Körper geschlagen, an dem nichts zusammenpasste. Er musste als Kind unter Polio gelitten haben. Für jemanden seiner Generation, er war vielleicht zwanzig Jahre älter als ich, war das sehr ungewöhnlich. Sein linkes Bein war deutlich verkürzt und steif, ebenso sein linker Arm und seine linke Hand, die Hand eines Kindes, die er allerdings leicht und sogar anmutig bewegen konnte und mit der er mich einladend in sein Büro winkte. Er trug orthopädische Schuhe, deren unterschiedlich dicke Sohlen die Diskrepanz seines Wuchses ausgleichen mussten. In der Rechten hielt er einen schwarzen Gehstock mit silbernem Griff, ein Kolibri, wie ich später bemerkte. Als er sich umdrehte, sah ich, dass auch sein Rücken verformt war. Ein deutlicher Buckel zeichnete sich zwischen den Schulterblättern ab. Ich zögerte, ihm zu folgen, und er merkte es, drehte sich um, winkte noch einmal, lächelte und sagte in völlig unbeschwertem Ton: Kommen Sie, man gewöhnt sich daran.


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Ausgerechnet ein Huf!

Donnerstag, den 20. Januar 2011

Matana mit seinem enzyklopädischen Wissen zitiert gern große Männer, Thomas Kardinal Wolsey etwa: »Sei sehr, sehr vorsichtig, was Du in deinen Kopf hinein lässt, denn du wirst es nie und nimmer wieder heraus bekommen.« Und damit haben beide recht, Wolsey, der es sagte, und Matana, der es sich nicht entgehen lässt, mich gelegentlich daran zu erinnern. Wie sehr ich mich im Laufe der Jahre auch gesträubt haben mag gegen die Sheol-Geschichte meines Bar-Mitzwa-Lehrers, ich werde sie doch nicht los. Allen inneren Widerständen zum Trotz spukt sie mir beharrlich im Kopf umher, und es gibt Augenblicke, in denen mich Zweifel beschleichen und ich annehme, es könnte am Ende doch etwas Wahres daran sein.

Eben zum Beispiel, als ich schlaftrunken ins Dunkel blinzelte und den Huf entdeckte.

Ausgerechnet ein Huf!


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Sheol

Mittwoch, den 19. Januar 2011

Broken Mirror

Hätte mein Vater einen anderen Lehrer für meinen Bar-Mitzwa-Unterricht engagiert, wäre ich womöglich religiös geworden, denn was lag näher, als im Absender der codierten Nachrichten, die Auskunft über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu enthalten versprachen, Gott zu vermuten? Mein Leben wäre mit Sicherheit anders verlaufen, hätte mein Lehrer meine Vorstellung von Gott nicht mit Ängsten vergiftet, zunächst der trivialen Angst vor Mundgeruch und hässlichen, aus den Ohren sprießenden Borsten und schließlich einer ganz handfesten Angst. Als ich nämlich durch meinen Eifer beim Erlernen der hebräischen Vokabeln plötzlich doch Hoffnung in meinem Lehrer geweckt hatte, aus mir könnte noch einmal ein »Wissender« werden, wie er es nannte, da verdarb er mit einer Geschichte, die er selbst vielleicht gar nicht so wichtig nahm, für immer alles Religiöse für mich.


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