Nähe und Unvereinbarkeit zweier Konzepte
Ein Gastbeitrag von Chaim Noll
»Um einander zu verstehen, müssen wir über
das sprechen, was uns unterscheidet.«(1)
Im Folgenden soll vergleichend von zwei Büchern die Rede sein, von zwei Textwerken und geistig-religiösen Konzepten, die durch das Hervorgehen des Einen aus dem Anderen eng miteinander verbunden sind. Die welthistorische, kulturprägende, zu gesellschaftlicher Aktion inspirierende, Krieg und Frieden evozierende Wirkung beider Texte ist ihre erste ins Auge springende Gemeinsamkeit, wobei in beiden Fällen, Bibel wie Koran, vorsorglich darauf hingewiesen werden muss, dass ein religionsstiftendes Buch, überhaupt ein ideell-religiöses Konzept, mit den Aktionen der Menschen, die sich darauf berufen, nicht identisch ist.
Richtiger wäre, von drei Büchern zu sprechen, denn die hebräische und die christliche Bibel sind bekanntermaßen nicht identisch. Doch da die christliche »Heilige Schrift« die gesamte jüdische Bibel, den hebräischen tanach, in einer von Juden angefertigten griechischen Übersetzung, der Septuaginta, ihrerseits kanonisiert und unter dem Namen »Altes Testament« in sich aufgenommen hat, ist aus christlich-europäischer Sicht die jüdische Bibel erklärtermaßen Bestandteil des eigenen Konzepts(2). Anders als der Koran hat das Christentum die ursprünglichen Bücher der Juden unverändert als religiöse Grundlage beibehalten, ihr Menschenbild, ihr Konzept von der Gleichheit aller Menschen vor dem Schöpfer, ihren Moralkodex, das von Nietzsche verächtlich als »Sklavenmoral« verworfene Mitgefühl mit den Schwächeren, mit Frauen und Kindern, mit dem »Fremden, der in deinen Toren wohnt«, die Abschaffung der lebenslangen Sklaverei(3).
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