Verdrängte Schatten

Dienstag, den 21. August 2007

cigarette - © 2004-2007 by ~5tellaWasADiver@deviantart.com

cigarette — © 2004-2007 by ~5tellaWasADiver@deviantart.com

mit einer zigarette taucht am abend
die traurigkeit der kindheit wieder auf
aus der erinnerung entsteigen narbend
gehüllt in rauch verdrängte schatten auf
zerfließen langsam malen an die wand
das bild des baums vorm haus: dem wind sich neigend
das mählich sich verzerrt und aus ihm steigend
erreicht im dunkel mich dann deine hand
die tröstend harte und sie will nicht weichen
beharrlich bleibt sie läßt nicht ab von mir
und wiederholt der liebe kalte zeichen
wie du mich einst ertrugst in dir und mir
das leben gabst: mit schmerz – gerade so
ruft mich dein schatten fort ins nirgendwo

© Benjamin Stein (1988)

••• Das ist eines der Gedichte, bei denen ich mir über die Jahre immer unsicher war, ob es nicht doch lieber zu vernichten sei. Das letzte Terzett schien mir immer misslungen, aber man kann, wenn so ein Text einmal „ausgeatmet“ ist, nicht ohne weiteres den Schluss durch einen anderen ersetzen. Das wäre mir – wunderlich vielleicht – doch unehrlich erschienen.

Nun, ich habe es trotz der Bedenken aufgehoben, möglicherweise weil es die Brücke zum Motiv des bei lebendigem Leib verbrennenden Rottenstein (nicht wirklich, oder doch?) im „Alphabet des Juda Liva“ gewesen sein könnte.

Träges Haar

Mittwoch, den 15. August 2007

A Girl With a Hat by ~borissov@deviantart
A Girl With a Hat — © by borissov@deviantart

ist der hut abgelegt
will das haar
noch lange nicht
zwanglos fallen
verloren schwebt
das medusenhaupt
durch eisige luft
und im blinden spiegel grüßen
dich müde augen und bannen
dein lachen
in stein

© Benjamin Stein (2007)

••• Die Tradition und deren männliche Hüter erwarten von der verheirateten jüdischen Frau, dass sie ihr Haar bedeckt – und zwar vollständig. Die Vorschrift beruht auf einem Nebensatz in der Torah (Bamidbar [Numeri] 4:21-7:89). Aus der Beschreibung der Sotah-Zeremonie, in deren Verlauf der Kohen im Tempel das Haar der vom Ehemann der Untreue verdächtigten Frau löste und so gewissermaßen zur Schau stellte, leitet man(n) ab, dass Haar Symbol und Gegenstand erotischer Anziehung ist und verdeckt werden müsse bei einer Frau, die anderen verboten ist.


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Beschlagene Scheiben

Freitag, den 3. August 2007

smokey window to my soul © macrocosm12@deviantart
smokey window to my soul © macrocosm12@deviantart

Du wirst den Dämonen
begegnen müssen.
Sie schleichen nicht fort,
wenn du bittest und schreist.

Sie haben gewaltige,
kräftige Arme
und greifen nach dir,
und halten dich klein.
Keine Nacht ohne Pochen
an beschlagenen Scheiben.
Kein Tag vergeht
ohne Angsthauch im Nacken.
Keine Stunde,
in der nicht
der Biss der Gespenster
dir plötzlich ins Innerste reißt.

Du wirst den Dämonen
begegnen müssen.
Sie lassen nur ab,
wenn du weißt.

© Benjamin Stein (2007)

••• Unfertig? Wie das meiste im Leben, wie wir selbst.

blaue stunde

Sonntag, den 1. Juli 2007

Smoke – © vikking20@deviantart.com

Smoke – © vikking20@deviantart.com

in der blauen stunde streift
meine zunge im schafspelz
geständnisse ab
an deiner haut

heute will ich auf steinen schlafen
hörst du mich sagen und
ehrlicher klirren die ketten nie
als am tag des verrats

in der blauen stunde
gehn die kinder durchs ried
und köpfen mit hölzernen schwertern
was vom schilf noch blieb

© Benjamin Stein (2007)

••• Das könnte der heutige Gegenentwurf sein zum Gedicht vom Donnerstag: in der Form wie im Inhalt. Ob es auch epigonal ist, müssen andere entscheiden…

Begegnung

Donnerstag, den 28. Juni 2007

Als wir begannen, schamlos zu betrachten
des andren Lippen, Augen, Hand und Haar
vergaßen wir sehr bald, darauf zu achten
was vorher uns die größte Angst noch war:
daß ohne Müh der andre uns erkennte.

Ich war darauf nicht sonderlich erpicht
daß mit dem ersten Wort uns nicht mehr trennte
Verschwiegenes, das meint: den kennst du nicht.

Sagt ich: Zur Offenheit gehört auch Mut
da riefst du: Feigling! Hast mich so genannt
und ich war stumm und Traurigkeit wohl da.

Doch wurd ich froh am Ende, als ich sah:
Wir hatten uns – trotz allem – doch erkannt.
Und wußt es: So – und nur so – war es gut.

© Benjamin Stein (1989)

bleierne wasser

Sonntag, den 27. Mai 2007

Listen to Water © 2004-2007 by Keizie

Listen to Water © 2004-2007 by Keizie@deviantart

seltsam verkleidet kehren
die sommer der kindheit
zurück in die stadt
meine kinder führen
mich plappernd umher
über asphaltwege
unter flirrender luft
schwappen bleierne wasser
in meine augen
und schwemmen das gras
das wuchernde gras und die disteln
aus meinem kopf / aus den höhlen
und füllen mich
aus

© Benjamin Stein (2007)

die strände die welle

Mittwoch, den 2. Mai 2007

für Undine Materni

Unsicher stehn wir auf den herzen der freunde Am strand stirbt der wind wenn er rastet wie Wir stürzen entkräftet ins meer Für sekunden ruhen wir atemlos aus Den kopf ins seegras geschmiegt Nimmt uns die welle kühl den staub von den stirnen Fort ist auch sie Müde des ansturms gegen die küsten Der matte schimmer den wir bemerkten auf ihrem verflachenden kamm War nur der widerschein helleren leuchtens In uns Wohin ihre kühle nicht reicht

© Benjamin Stein (1988)

••• Die Auflösung schreitet voran. Das „Andere Blau“ bewegt sich aufs Finale zu. Dieses Gedicht aus dem Off markiert das letzte Innehalten vor dem Abschied von Nadia und Richard. Geschrieben wurde es 1987 oder 1988 für Undine Materni.

Schon im „Libellenflügel“, dem Vorversuch zum „Anderen Blau“, hätte dieses Gedicht dieselbe Funktion haben sollen, die der Synkope vor dem Finale. „Der Libellenflügel“ endete am Meer…

Den Wellen zu

du mußt bleiben, sagt eine stimme, hier.

doch ich weiß, wer spricht; und ich höre nicht mehr auf die stimme. hinaus will ich, den wellen zu. ich kann nicht glauben, daß ich sie nicht mehr verstehen soll. so muß ich vorwärts, bis sie meine füße umspülen, den sand fort unter meinen nackten sohlen, wenn sie zurückfluten, als wollten sie mich zu fall bringen.

sie wollen mich nicht, denke ich. und ich gehe dennoch, weiter, fort von dem strand, hinaus in das wasser, hinaus in die weite…

die möwe fliegt auf von meiner schulter, fort, zieht einsam weite kreise über dem meer.

Aus dem Meer ist im „Blau“ ein See geworden. Aus der Einsamkeit eine Gemeinsamkeit. Oder ist es am Ende doch nur ein fremdes Nebeneinander? In zwei Tagen werden wir es wissen.