Gabe und Strafe (3)

Dienstag, den 12. Februar 2008

Meah Shearim
Meah Shearim

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Die neue Wohnung lag nur wenige Strassen von der alten entfernt. Für den Umzug liehen meine Eltern sich Leiterwagen von den Nachbarn aus. Zwei Jungen aus der Nachbarschaft halfen beim Tragen. Und das, obwohl die Nachbarn unverhohlen missbilligten, dass wir nicht im Viertel blieben. Das neue Haus nämlich, wenn auch nur wenig mehr als zweihundert Meter vom alten Haus entfernt, gehörte bereits zu einer anderen Welt.


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Gabe und Strafe (2)

Montag, den 11. Februar 2008

Meah Shearim

«« Gabe und Strafe (1)

Geboren wurde ich in Meah Shearim, Yerushalayim, einem der Epizentren jüdischer Gottesfürchtigkeit. Ich war der erste Sohn nach drei Töchtern und ganze fünfeinhalb Jahre jünger als meine älteste Schwester. Dies war in unserer Nachbarschaft alles andere als ungewöhnlich. Einzig das Alter meiner Eltern hätte als auffällig gelten können, denn sie waren bereits ein gutes Stück über dreissig. Dafür konnte es an einem Ort wie diesem nur drei Erklärungen geben. Entweder waren sie Sitzengebliebene, weil irgendetwas in den jeweiligen Familien nicht ganz koscher gewesen war: ein unheilvolles Walten des Bösen Blicks beispielsweise, Synonym für lebensbedrohliche Melancholie, oder aber unbezähmbare Teives, die, Gott behüte, ein Mitglied der Familie vom einzig wahren Weg der Torah abgebracht hatten. Als zweite Möglichkeit kam in Betracht, dass es nicht ihre erste Ehe war. Und die dritte mögliche Erklärung, nämlich dass ihre jüdischen Wurzeln nicht bis unmittelbar an den Fuss des Berges Sinai zurückreichten, hätte einen kaum geringeren Makel bedeutet.


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Gabe und Strafe (1)

Sonntag, den 10. Februar 2008

Ich weiss es nicht. Ich bin mir wirklich unsicher, ob ich diese, meine Fähigkeit eine Gabe nennen soll. Täte ich es, wer, müsste ich fragen, wäre der Gebende gewesen? Dort, woher ich komme, gibt es auf eine solche Frage nur eine Antwort: Ha-Kadosh baruch-hu, der Heilige, gelobt sei er; oder aber Satan, der ewige Versucher, und es hätte einzig an mir gelegen, den Beweis der tatsächlichen Herkunft dieses Geschenks anzutreten. Denn jeder Gabe, so hätte man mir gesagt, wohne das Potential des Guten wie auch des Bösen inne, und es läge letztendlich immer in der Hand des Beschenkten, das Geschenk zu einem Segen oder einem Fluch zu machen.


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Amnon Zichroni

Montag, den 31. Dezember 2007

Ich glaubte lange Zeit, ich hätte so etwas wie einen sechsten Sinn. Nicht, dass ich tote Menschen sah oder etwas Vergleichbares, das man für übernatürlich hätte halten können. Es war eher das Gegenteil der Fall. Ich glaubte, ein Gespür zu haben für das wirklich Vitale in Menschen, die ich traf und die oft meine Hilfe suchten. Ein Gespür dafür, was sie antrieb oder hinderte, etwas zu tun, dafür, wovon sie zehrten, für jenen Kern in ihnen, den sie selbst in einem offenen Moment vielleicht als ihr Ich bezeichnet hätten.

Was einen Menschen ausmacht, das steht ihm nicht ins Gesicht geschrieben. Es lässt sich nicht dem Klang seiner Stimme ablauschen. Man kann es nicht riechen und schmeckt es nicht einmal aus dem Tropfen Schweiss auf der Schläfe im Augenblick der Angst. Wollte man sich auf Berührungen verlassen, wäre man ganz verloren, denn Tastender und Berührter vermischen sich in der Berührung, und man kann nie sagen, ob man nicht mehr von sich selbst wahrnimmt in einem solchen Moment als von dem Menschen, den man zu erkennen hofft. Auch eine Mischung aus all dem ist es nicht. Nein, das, wovon ich hier spreche, ist mit den uns für gewöhnlich verfügbaren Sinnen nicht zu fassen.


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