Akzente

Samstag, den 6. Januar 2007

••• Im Dezember habe ich mit Zuneigung von „Sinn und Form“ als altehrwürdiger Freundin berichtet. Nicht weniger ehrwürdig ist eine weitere Literaturzeitschrift, die seit nun schon 53 Jahren vom Hanser Verlag herausgegeben wird: „Akzente“.

Interessenten können ein Kennenlernexemplar kostenfrei online bestellen. Eine Übersicht über die bisherigen Ausgaben, die zum Teil bestellbar sind, findet sich hier. Wer wirklich an Lyrik interessiert ist, wird um ein Abonnement nicht herumkommen.

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Gilgamesh

Mittwoch, den 27. Dezember 2006

Der lauf der nacht war ein einziger traum
die himmel donnerten die erde warf ihr echo zurück
und da war ich stand dazwischen und noch jemand war da –
ich ahnte ihn mehr als daß ich ihn sah:
ich ahnte ihn mehr als daß ich ihn sah:Unheimlich war er
ein schwarzer schatten einer von denen keinerlei licht ausgeht
sie schleichen herum verstohlen und gebückt • von ihren klauen
tropft die bittere galle der nacht • nicht mann noch frau
sind sie hören auf kein gebet und keine bitte
sie sind kalt wie der ständig wehende wind kalt
wie der tod der die schale der dinge zerspringen läßt
und zu scherben zerbricht
und zu scherben zerbrichtDie gefolgsleute des todes sind sie
die söhne des sturmgottes und der königin der unterwelt
dem himmel entrissen und auf die erde geworfen
der giftige laich der götter kreaturen die man hoch oben
schreien hört und in der tiefe winseln
schreien hört und in der tiefe winselnÜber die dächer
kommen sie und kriechen über die häuser
keine tür vermag sie aufzuhalten kein schloß
sie kommen durch die ritzen wie schlangen durch die fugen
wie der frost
wie der frostSie holen sich die frauen aus den armen
des mannes und die kinder von den knien der mütter
und heften sich einem jeden lähmend auf die fersen
und heften sich einem jeden lähmend auf die fersenUnd dann
nahm der ghoul neben mir gestalt an • er glich dem donnervogel
Anzu – seine hände die tatzen eines löwen die fingernägel
die klauen eines adlers • damit griff er mich bei den haaren
Ich schlug auf ihn ein aber er wich meinen hieben aus
er drehte sich unter mir weg ich suchte ihn zu fassen
doch er kam über mich wie die staubigen winde
die sich über die ebenen drehen
die sich über die ebenen drehenUnd mit einem mal lag ich
am boden • er trat mir in die rippen und sein geifer
tropfte auf mich herab • ich schrie nach dir Gilgamesh
ich schrie um hilfe doch du konntest mich nicht retten
du warst wie gebannt
du warst wie gebanntEr schlug auf mich ein
plötzlich aber verwandelte ich mich in einen vogel –
er aber fesselte meine arme wie man flügel zusammenbindet
und stieß mich voran auf einen weg ohne rückkehr
durch die sieben ringmauern die die stadt Irkalla umgeben
Er führte mich ins haus des dunkels das keiner wieder verläßt
der seine schwelle einmal überschritten hat:
der seine schwelle einmal überschritten hat:In dieses haus
wo lehm unser brot ist und wir ein kleid von federn tragen
wie vögel – wo wir im dunkeln leben ohne je das licht
zu sehen
zu sehenDer staub lag dick wie je auf allen mauern
und das schweigen lastete unendlich schwer darauf
Als ich es zum ersten mal betrat da lagen wohin ich auch sah
kronen im staub kronen die man königen abgenommen hatte

Übertragung: Raoul Schrott
aus: Raoul Schrott: „Gilgamesh“
© Fischer Taschenbuch Verlag 2006

Raoul Schrott: Gilgamesh••• Man kann unmöglich von Raoul Schrott sprechen, ohne seine „Gilgamesh“-Übertragung zu erwähnen.

Ich gestehe es gern ein: Bevor mir eine Freundin kürzlich davon erzählte (1000 Dank, liebe Hanna!), war mir das Epos und also auch Schrotts Neuübertragung völlig unbekannt. Welch eine Lese-Lücke!

Raoul Schrotts „Gilgamesh“ ist eine wissenschaftliche Edition. Der rekonstruierte Textkörper wird wiedergegeben. Hinzu kommen eine Fülle von Ausführungen zur Geschichte, zur wahrscheinlichen Entstehung. Doch wie schon in seinem bereits erwähnten Buch „Die Erfindung der Poesie“ liegt für den Literatur-Begeisterten der eigentliche Reiz mehr in der kongenialen Nachdichtung. Schrotts „Gilgamesh“ ist unbedingt mehr als eine Übertragung; ohne seinen Nachdichter könnte dieses Werk kaum in solcher Kraft auf uns wirken.

„Gilgamesh“ ist das älteste sagenumwobene Epos der Menschheitsgeschichte. Für Rilke wie Canetti zählte die Geschichte von Kriegern, Städten und der Suche nach Unsterblichkeit zum „Größten“, was sie je gelesen hatten. Ohne Zweifel gehören die elf zerbrochenen Keilschrifttafeln, die das Epos fragmentarisch überliefern, zu den größten Rätselsteinen unserer Welt.

[vom Umschlagtext der zitierten Ausgabe]

Sappho II

Dienstag, den 26. Dezember 2006

Ehrlich • ich wollte ich wäre tot
sie hat geweint

als sie mich verließ und zu mir
sagte: wirklich ich wollte ich
wäre tot – wie ungern verlasse
ich dich Sappho!

Und ich sagte zu ihr: sei nicht
traurig du weißt ja wie sehr ich
wie sehr wir dich liebten • traurig
ist nur was man

vergißt und ich weiß ja daß du
alles vergißt was man dir sagt
drum laß dich daran erinnern
wie es war als du

hier bei uns warst: weißt du
noch die kränze aus veilchen rosen
und krokus und jene
aus anis und dill?

Wie wir uns girlanden aus ginster
und gras flochten und sie uns
um den hals legten und wie sie
dich stachen?

Wie viele salben hast du immer
gebraucht – brentho und basileion
für deine haut damit sie glatt würde
wie für einen könig!

Was warst du doch für ein kindskopf
schliefst lang in den tag hinein und
träumtest von wasweißichwas –
wußte ich wem?

Bei keinem einzigen tanz aber hast
du gefehlt keinem einzigen opfer
keinem einzigen trank und es gab
keinen hain

wo wir uns nicht den frühling holten
und ihn mit unseren liedern wieder
vertrieben – du hast ja auch damals
meist falsch gesungen!

Wirklich ich wollte ich wäre tot ich
habe dich weinen gesehen als du fort
von uns gingst und ich nichts richtig
zu sagen vermochte

Sappho, Übertragung: Raoul Schrott
aus: Raoul Schrott: „Die Erfindung der Poesie.
Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“

© dtv 1999

••• Noch eine Sappho-Übertragung aus dem gestern erwähnten Band.

Sappho I

Montag, den 25. Dezember 2006

Wenn du stirbst ist der tod das ende
•••••keiner fragt dann mehr
nach dir und in niemandes erinnerung
•••••wirst du weiterleben
weil du nie teilhattest an den rosen
•••••Pieriens • im haus
des Hades wirst du nur ein schatten
•••••unter allen anderen sein
in der mitte des windes • im nichts

Sappho, Übertragung: Raoul Schrott
aus: Raoul Schrott: „Die Erfindung der Poesie.
Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“

© dtv 1999

Sappho Büste••• Vor zwei Tagen ging das Chanukkah-Fest zu Ende. Die Juden in aller Welt feierten acht Tage lang den wundersamen Sieg der Makkabäer über die Weltmacht Griechenland. Das Volk des Buches war den Griechen nicht wohl gesonnen. Zu gefährlich schien der Einfluss von Gymnasien, Vielgötterei und libertinen Auffassungen zur Sexualität. Der entweihte Tempel, das Verbot des Torah-Lernens und der Befolgung der überlieferten Gesetze gaben auch allen Anlass zu feindlicher Gesinnung.

Was aber wäre die Dichtung ohne die Griechen? Ohne die grossen Epen und antiken Dramen?

An dieser Stelle darf die Erwähnung der alten Griechen also sicher nicht fehlen. In seinem vielgerühmten Buch „Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“ widmet sich Raoul Schrott denn auch ausführlich der antiken griechischen Dichtung. Wissenschaftlich geht er zu Werke; und oft ist sein Blick für meinen Geschmack gar zu kühl. Zu lernen allerdings gibt es viel; und ich verdanke diesem Buch die Wiederentdeckung einer Dichterin, die ich schon als Jugendlicher gern gelesen habe, wenn auch in wesentlich weniger gelungenen Übertragungen.

Raoul Schrott selbst schreibt dazu:

Es gibt so viele Sapphos wie Herausgeber. Die Entzifferung der Worte, die Ergänzung von Silben, ja von ganzen Sätzen, der Zusammenhang einzelner Zeilen und der Gedichte überhaupt, bleibt wie bei keinem anderen Dichter sonst Vermutung und subjektive Interpretation. Die Übersetzung ist es noch mehr, wie die greifbaren – aber kaum lesbaren – wissenschaftlichen Ausgaben mit ihren Interlinearversionen und den Auslassungszeichen zeigen (…)

Wenn man Sappho entdecken will, empfiehlt sich also ein Blick in dieses Buch. Bei Schrott verbindet sich das Wissen des Sprachwissenschaftlers mit poetischem Können. Das Ergebnis sind nahezu leichtfüssige Übertragungen ohne jeden Stelz.