Der Panther

Donnerstag, den 30. November 2006

Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer-Maria Rilke (1875-1926)
aus: „Die Gedichte“
© Insel Verlag 1998

••• Mein kleines Land. In dem Land, aus dem ich komme, war alles klein: der Horizont, die Möglichkeiten und vor allem die Bürger.

Das vorherrschende Gefühl meiner Jugend war Enge, Beschränktsein. Die Ursache dafür lag nicht in den verminten Grenzstreifen und dem Stacheldraht, die den Weg in Richtung Westen versperrten. Es lag mehr an der eigentümlichen Gesellschaft, der es gelang, in diesem kleinen, beschränkten Biotop die Welt zu sehen.

Ich nahm teil am Literaturkurs unseres Abiturjahrgangs. Wenigstens mit der Nase im Buch versuchten wir, unseren Horizont zu erweitern. Wir lasen Salinger, ja sogar Kerouac, und kamen uns dabei schon subversiv vor. Als einer meiner Freunde Rilkes Panther entdeckte und uns vorlas, erkannten wir alle uns wieder. Steckte nicht in uns allen diese Kraft? Und fürchteten wir nicht alle, sie würde sich eines Tages totlaufen im Käfig, hinter tausend Gitterstäben, die unser kleines Land umgrenzten und hinter denen wir die wirkliche Welt vermuteten?

Wir waren uns unserer selbst nicht sicher.