Reisen

Mittwoch, den 18. Juli 2007

Departures

Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?

Meinen Sie, aus Habana,
weiß und hibiskusrot,
bräche ein ewiges Manna
für Ihre Wüstennot?

Bahnhofstraßen und Ruen,
Boulevards, Lidos, Laan –
selbst auf den Fifth Avenuen
fällt Sie die Leere an –

Ach vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.

Gottfried Benn

••• Meine Liebste wird bald verreisen. Ohne mich. Ganz allein (hoffentlich, wenn schon ohne mich). Ich wäre jetzt auch gern auf Reisen, nur mit ihr. Ich erinnere mich gern an unseren letzten Urlaub ohne Kinder auf Elba. Nun ja, unsere Tochter war schon dabei als gewölbter Bauch. Vor meinem inneren Auge die Anzeigetafel möglicher Destinationen.

Ach, wenn wir schon bei Benn sind: Einen kleinen Abriss über „Gottfried Benn in Briefen und Werken“ habe ich heute im Web entdeckt. Seine Zeilen erhellen ein wenig die Umstände der „Blauen Stunde“, die hier letztens zitiert wurde.

Blaue Stunde

Dienstag, den 10. Juli 2007

I
Ich trete in die dunkelblaue Stunde –
da ist der Flur, die Kette schließt sich zu
und nun im Raum ein Rot auf einem Munde
und eine Schale später Rosen – Du!

Wir wissen beide, jene Worte,
die jeder oft zu anderen sprach und trug,
sind zwischen uns wie nichts und fehl am Orte:
dies ist das Ganze und der letzte Zug.

Das Schweigende ist so weit fortgeschritten
und füllt den Raum und denkt sich selber zu
die Stunde – nichts gehofft und nichts gelitten –
mit ihrer Schale später Rosen – Du.

II
Dein Haupt verfließt, ist weiß und will sich hüten,
indessen sammelt sich auf deinem Mund
die ganze Lust, der Purpur und die Blüten
aus deinem angestammten Ahnengrund.

Du bist so weiß, man denkt, du wirst zerfallen
vor lauter Schnee, vor lauter Blütenlos,
totweiße Rosen, Glied für Glied – Korallen
nur auf den Lippen, schwer und wundengroß.

Du bist so weich, du gibst von etwas Kunde,
von einem Glück aus Sinken und Gefahr
in einer blauen, dunkelblauen Stunde
und wenn sie ging, weiß keiner, ob sie war.

III
Ich frage dich, du bist doch eines andern,
was trägst du mir die späten Rosen zu?
Du sagst, die Träume gehn, die Stunden wandern,
was ist das alles: er und ich und du?

«Was sich erhebt, das will auch wieder enden,
was sich erlebt – wer weiß denn das genau,
die Kette schließt, man schweigt in diesen Wänden
und dort die Weite, hoch und dunkelblau.»

Gottfried Benn (1950)

••• Dieses Gedicht von Gottfried Benn kannte ich noch nicht und stiess nur darauf, weil jemand via Google „benn blaue stunde“ suchte und bei meiner „blauen stunde“ landete. Beinahe beängstigend, es kommt mir vor wie ein Dialog – bis ins Motivische hinein, wobei man nicht weiss, wer eröffnet, wer geantwortet hat…

Nachlese zu Gottfried Benn

Dienstag, den 15. Mai 2007

••• In den Kommentaren zum Benn-Beitrag von heute habe ich zwei Gedanken aus der Vorlesung aus dem Gedächtnis wiedergegeben. Die Originalzitate wollte ich nicht schuldig bleiben:

[…] die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Meinung: da ist eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht. Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übrigbleibt, das ist dann vielleicht ein Gedicht.

Und zum Beweis der Fragwürdigkeit des Paraphrasierens aus dem löchrigen Gedächtnis:

[…] – und nun kommt das Rätselhafte: das Gedicht ist schon fertig, ehe es begonnen hat, er [Anm.: der Dichter] weiß nur seinen Text noch nicht. Das Gedicht kann gar nicht anders lauten, als es eben lautet, wenn es fertig ist. Sie wissen ganz genau, wann es fertig ist, das kann natürlich lange dauern, wochenlang, jahrelang, aber bevor es nicht fertig ist, geben Sie es nicht aus der Hand.

Aus: Gottfried Benn, „Probleme der Lyrik“ (1951)

Exorbitant oder gar nicht

Dienstag, den 15. Mai 2007

Mittelmäßige Romane sind nicht so unerträglich, sie können unterhalten, belehren, spannend sein, aber Lyrik muß entweder exorbitant sein oder gar nicht. Das gehört zu ihrem Wesen.

Gottfried Benn

Gottfried Benn••• Letzte Woche kam Post vom Herrn H. aus H. – ein schmales antiquarisches Bändchen mit einer Poetik-Vorlesung, die Gottfried Benn am 21. August 1951 an seiner einstigen Alma Mater in Marburg hielt: „Probleme der Lyrik“. Das war sehr nett vom Herrn H. Ich habe mich gefreut und sende gern Grüsse zurück vom Herrn St. aus M.

Ich mag antiquarische Bücher, besonders wenn die Vor-Besitzer darin Anstreichungen hinterlassen haben – mit Bleistift natürlich. Das sind jene, die dem Buch noch Achtung entgegenbringen und davon ausgehen, dass sie es später noch viele Male zur Hand nehmen werden und die wichtigen Stellen, an die sie sich zumindest noch ungefähr erinnern, schnell zu finden hoffen.

Dieses Buch nun hat mir eine halbe Stadtrundfahrt beschert. Ich war so in die Lektüre vertieft, dass ich auf dem Weg ins Büro in die falsche U-Bahn eingestiegen und bis zur Endstation durchgefahren bin, ohne es zu merken. Bis zurück zum Umsteigebahnhof dauerte es 20 Minuten, bis zum Büro schliesslich noch einmal 15. So bekam ich diese Vorlesung wenigstens am Stück zu lesen.

Benn hat uns manch Verblüffendes über Lyrik zu sagen. Ich glaube, ich werde noch öfter auf ihn und diese Vorlesung zurückkommen. Für heute will ich es bei dieser Mahnung an die Lyriker belassen. Ich gestehe, ich lese Lyrik auch ganz in diesem Sinne. Ich kann nicht anders.

Das macht mich zu einem undankbaren Leser, ich weiss.

Aus Fernen, aus Reichen

Freitag, den 4. Mai 2007

Was dann nach jener Stunde
sein wird, wenn dies geschah,
weiß niemand, keine Kunde
kam je von da,
von den erstickten Schlünden,
von dem gebrochnen Licht,
wird es sich neu entzünden,
ich meine nicht.

Doch sehe ich ein Zeichen:
über das Schattenland
aus Fernen, aus Reichen
eine große, schöne Hand,
die wird mich nicht berühren,
das läßt der Raum nicht zu:
doch werde ich sie spüren
und das bist du.

Und du wirst niedergleiten
am Strand, am Meer,
aus Fernen, aus Weiten:
»- erlöst auch er«;
ich kannte deine Blicke
und in des tiefsten Schoß
sammelst du unsere Glücke,
den Traum, das Los.

Ein Tag ist zu Ende,
die Reifen fortgebracht,
dann spielen noch zwei Hände
das Lied der Nacht,
vom Zimmer, wo die Tasten
den dunklen Laut verwehn,
sieht man das Meer und die Masten
hoch nach Norden gehn.

Wenn die Nacht wird weichen,
wenn der Tag begann,
trägst du Zeichen,
die niemand deuten kann,
geheime Male
von fernen Stunden krank
und leerst die Schale,
aus der ich vor dir trank.

Gottfried Benn (1927)

••• Zum Schlussstück des „Anderen Blau“ nun eines meiner liebsten Benn-Gedichte. Im „Libellenflügel“ spielte es eine gewisse Rolle.

Ein Tag ist zu Ende,
die Reifen fortgebracht,
dann spielen noch zwei Hände
das Lied der Nacht

Diese Zeilen fielen Daniel ein, als er in einer seiner schlaflosen Nächte durch die dünne Wand Ninas Klavierspiel hörte. Und die geheimen Male scheinen mir heute passend zum Schlussstück:

Was immer du warst in meinem Traum, in meinen Wünschen – jetzt bist du ein schwarzer Mann. Dein Mantel ist schwarz, und die Mütze ist schwarz, selbst der Schal und die Augen wie Kohlen. Aber was ich Schwarz nenne, ist nur ein anderes Blau für den Himmel. Es gehört dir nicht, es gehört mir nicht. Es ist blau.

Ich danke den vielen Blau-Lesern und -Hörern, die mir und dem Text über die letzten Wochen die Treue gehalten haben. Das bedeutet mir viel.

Mutter

Freitag, den 1. Dezember 2006

Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt
das Herz sich nicht draus tot.
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
Blut im Munde.

Gottfried Benn, aus: „Das Jahrhundertwerk. Sämtliche Gedichte / Künstlerische Prosa“
© 2006 Klett-Cotta

••• Hier stimmt doch etwas nicht, dachte ich immer.

Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.

Warum dieser scheinbar verbogene Satzbau, der Relativsatz folgend auf Stirn statt auf Wunde, um die es doch wohl geht? Warum heisst es nicht etwa:

Ich trage dich auf meiner Stirn
wie eine Wunde, die sich nicht mehr schließt.

Das bedeutet eine Änderung am Versmass. Der Melodie des Textes schadet dies jedoch nicht. Doch Moment – in der Frage liegt womöglich schon die Antwort. Was schmerzt? Woraus fliesst das Herz sich nicht tot? Ist es die Wunde, oder ist es die Stirn? Die Mutter oder das Ich? Der Text lässt beide Varianten zu und die Entscheidung offen.

So gibt es keine Anklage oder Selbstanklage in diesem Text. Beide, Mutter und Sohn, halten den Konflikt lebendig. So wenig, wie die Wunde sich schliessen mag, will das Ich aufgeben, die offene Stirn auszustellen. Da das Ich aber berichtet und – sei es auch nur durch einen widerborstigen Satzbau – erkennen lässt, dass die Natur des Konflikts durchschaut ist, besteht Hoffnung.

Das Ich ist eigentlich schon dabei, sich aus der Umklammerung zu lösen. Es ist sehend geworden. Überstanden allerdings ist es noch nicht, denn …

… manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
Blut im Munde.