… ist es dann gut?

Montag, den 18. Januar 2010


Ulli Janetzki liest Gottfried Benn

Einst

Einst, wenn der Winter begann,
du hieltest von seinen Schleiern,
den Dämmerdörfern, den Weihern
die Schatten an.

Oder die Städte erglommen
sphinxblau an Schnee und Meer -,
wo ist das hingekommen
und keine Wiederkehr.

Alles des Grams, der Gaben
früh her in unser Blut -:
Wenn wir gelitten haben,
ist es dann gut?

Gottfried Benn (1933)

••• Ulli Janetzki, seit Urzeiten (möchte man sagen, ohne ihm zu nahe treten zu wollen) Hausherr im Literarischen Colloquium Berlin, hat sich kürzlich überrumpeln lassen. Da zückte einer die Kamera und bat ihn, ein paar Benn-Gedichte zu lesen. Es freut mich diebisch, dass mir das gleich jemand zugetragen hat, denn ich erinnere mich noch lebhaft an Ulli Janetzkis Rezitation von Richard Dehmels »Gerte« (Ich habe dich Gerte getauft, weil du so schlank bist / und weil mich Gott mit dir züchtigen will) und natürlich auch an jeden einzelnen Besuch in jener traumfhaften Villa am Wannsee, damals wie heute ein Ort, der für literarische Veranstaltungen wie geschaffen ist.


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Menschen getroffen

Mittwoch, den 23. Dezember 2009

Gottfried Benn - Arzt und Schriftsteller, Quelle: Bundesarchiv
Gottfried Benn – Arzt und Schriftsteller • Quelle: Bundesarchiv

Ich habe Menschen getroffen, die
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen könnten,
auch noch eine Benennung zu haben –
»Fräulein Christian« antworteten und dann:
»wie der Vorname«, sie wollten einem die Erfassung erleichtern,
kein schwieriger Name wie »Popiol« oder »Babendererde« –
»wie der Vorname« – bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht!

Ich habe Menschen getroffen, die
mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchentisch lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen –
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa
die reine Stirn der Engel trugen.

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehen.

Gottfried Benn (1886-1956)

••• An dieses Gedicht von Gottfried Benn erinnerte Shafik Naz im Dezember in seinem Lyrikkalender. Und Undine Materni sandte es mir per Mail mit einem wunderschönen Jahresendgruß, den ich gern – wie schon letztes Jahr – an die Turmsegler weiterleite. So wünsche ich Euch also allen mit Undines Worten »einen magischen Moment jenseits der raschelnden Geschenkpapiere und vollen Teller …«

Das Unaufhörliche (Schluss-Chor)

Freitag, den 31. August 2007

Paul Hindemith/Gottfried Benn: Das Unaufhörliche (bei amazon.de)

••• Zum Abschluss dieses Abstechers in die Welt des „Unaufhörlichen“ heute der Schluss-Chor.


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Das Unaufhörliche (Lied)

Donnerstag, den 30. August 2007

Gottfried Benn: Das Jahrhundertwerk in 2 Bd. (Klett-Cotta)

Lied

Lebe wohl den frühen Tagen,
die mit Sommer, stillem Land
angefüllt und glücklich lagen
in des Kindes Träumerhand.
Lebe wohl, du großes Werde,
über Feldern, See und Haus,
in Gewittern brach die Erde
zu gerechtem Walten aus.
Lebe wohl, was je an Ahnen
mich aus solchem Sein gezeugt,
das sich noch den Sonnenbahnen,
das sich noch der Nacht gebeugt.
Von dem Frühen zu dem Späten,
und die Bilder sinken ab –
lebe wohl, aus großen Städten
ohne Traum und ohne Grab.

Gottfried Benn, aus: „Das Unaufhörliche“

••• Zu finden ist der volle Text zum Oratorium nebst den nicht vertonten Teilen, Versuchen und Studien in der sehr schönen Benn-Gesamtausgabe von Klett-Cotta. In zwei Bänden findet sich die Lyrik und die künstlerische Prosa Benns. Was leider fehlt: „Probleme der Lyrik“, Benns Poetik-Vorlesung, die er 1951 an der Uni Marburg hielt.

Das Unaufhörliche

Mittwoch, den 29. August 2007

Paul Hindemith Gedächtnisbriefmarke

Das Unaufhörliche:
Großes Gesetz.

Das Unaufhörliche
mit Tag und Nacht
ernährt und spielt es sich
von Meer zu Meer,
mondlose Welten überfrüht,
hinan, hinab.

Es beugt die Häupter all,
es beugt die Jahre.

Der Tropfen Brände,
der Arktis eis’ge Schauer,
hinan, hinab,
ein Hauch.

Und stolze Häupter,
voll Gold und Kronen umarmt
oder im Helm des namenlosen Mannes:
das Unaufhörliche,
es beugt auch dich.

Das Unaufhörliche.
Verfall und Wende
die Meere über,
die Berge hoch.

Sein Lager
von Ost nach West
mit Wachen auf allen Höhn,
kein Ding hat Frieden
vor seinem Schwert.

O Haupt,
von Gold und Doppelflügeln umarmt,
es beugt auch dich.

Gottfried Benn, aus: „Das Unaufhörliche“
Oratorium, 1. Teil No. 1 (Chorus)
Musik: Paul Hindemith

••• Eine Kostprobe zumindest aus dem Benn/Hindemith-Oratorium „Das Unaufhörliche“ wurde gewünscht. Das sollt ihr haben. Was für ein Oratorium!

Hörprobe aus Hindemith/Benn: „Das Unaufhörliche“
DeutschlandRadio, Rundfunkorchester und -Chöre Berlin
© Schott Music International (1931, 1959)
© Schott Wergo Music Media (1996)

Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke

Sonntag, den 12. August 2007

Bed in the hospital © bluecode72@deviantart
Bed in the hospital – © bluecode72@deviantart

Der Mann:
Hier diese Reihe sind zerfallene Schöße
und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett und faule Säfte,
das war einst irgendeinem Mann groß
und hieß auch Rausch und Heimat.

Komm, sieh auf diese Narbe an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht.
Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
Kein Mensch hat soviel Blut.
Hier dieser schnitt man
erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß.

Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen
sagt man: hier schläft man sich gesund. – Nur sonntags
für den Besuch läßt man sie etwas wacher.

Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht.

Hier schwillt der Acker schon um jedes Bett.
Fleisch ebnet sich zu Land. Glut gibt sich fort,
Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft.

Gottfried Benn, aus: „Morgue“

••• Beim Lesen der „Traumkraut“-Gedichte von Goll fiel mir unmittelbar der Gang durch die Krebsbaracke ein, sicher eines der bekanntesten Benn-Gedichte aus seinem frühen Werk.

Gottfried Benn spricht Gottfried Benn

Mittwoch, den 1. August 2007

Gottfried Benn: Tonwerk••• Ich war völlig perplex. Wenn ich Fotos von Benn sehe, wenn ich seine Gedichte lese, stelle ich mir eine sonore, eher tiefe Stimme vor. Und nun stolpere ich über diesen Fund und kann die Stimme des echten Benn kaum zusammenbringen mit meiner lange gehegten Vorstellung.

Da wird man wohl wieder ein wenig Geld anlegen müssen. Benn spricht Benn: Das Hörwerk 1928-1956. Über 11 Stunden auf MP3-CD. Die neue, erweiterte Ausgabe, der ein Tonmitschnitt von Benns einzigem TV-Interview hinzugefügt wurde, ist in Leineneinband im Schuber bei 2001 erhältlich.

An unten angefügter Hörprobe kann man leicht erkennen, dass es heute um die Literatur nicht schlechter oder besser steht als zu Benns Lebzeiten. Schön, mit welchem Gleichmut er das beschreibt.

Hörprobe: Benn spricht Benn