Die verlorene Kunst des lauten Lesens

Dienstag, den 19. Mai 2009

Sometimes the best way to understand the present is to look at it from the past. Consider audio books. An enormous number of Americans read by listening these days — listening aloud, I call it. The technology for doing so is diverse and widespread, and so are the places people listen to audio books. But from the perspective of a reader in, say, the early 19th century, about the time of Jane Austen, there is something peculiar about it, even lonely. […] It’s part of a pattern. Instead of making music at home, we listen to recordings of professional musicians. When people talk about the books they’ve heard, they’re often talking about the quality of the readers, who are usually professional. The way we listen to books has been de-socialized, stripped of context, which has the solitary virtue of being extremely convenient.

Verlyn Klinkenborg:
»Some Thoughts on the Lost Art of Reading Aloud«

••• Wenn ich schon eine schöpferische Blog-Pause einlege, kann ich diese auch nutzen, mal ein wenig zurückzuschauen auf die letzten Jahre und die neu hinzugestoßenen Turmsegler auf einige länger zurückliegende Beiträge aufmerksam machen, die mir besonders gefallen haben. Stichwort: Die Kunst des lauten Lesens.

Im Turmsegler wurde seit dem 11. März 2007 auch vorgelesen, und für mich hatte dieses Vorlesen schon ein wenig von »Hausmusik«. Die Vorstellung der direkten Ansprache gefiel mir, und da ich dabei nie eine »professionelle Performance« im Sinn hatte, erfüllte der Podcast nach meinem Geschmack durchaus den Tatbestand des »privaten Vorlesens«, wenn ich den Zuhörern auch nicht leibhaftig gegenübersaß.

Besonders gern erinnere ich mich an die kleine Serie über Christine Lavant und lade die jetzigen Turmsegler-Leser (und -Hörer) ein, sich diese drei Gedichte noch einmal unter die Haut gehen zu lassen.

Übrigens wurde damals im Turmsegler auch noch ausgiebig diskutiert. Die Kommentare zu den obigen Beiträgen sind lesenswert.

Arsen, in gewissen Abständen

Sonntag, den 15. April 2007

Ich bin abgerufen worden in das Ärztezimmer, wo der Gerichtspsychiater wartete. Schwester Friedel hat mich hingebracht und mir vor der Türe noch einmal einen tröstlichen Schlag versetzt: „Nur Mut, mein Kind, er wird sie nicht fressen. Lassen Sie sich bloß nicht bange machen.“ … Aber ich war ja in keiner Weise bange und konnte mir überhaupt nichts rechtes vorstellen. Der Primarius war da und die Oberschwester – auf deren aufgeregtes Geflatter ich allerdings gern verzichtet hätte – und dann ein fremder, kleiner, glatzköpfiger Herr, dem ich nun nachträglich innig wünsche, daß er eine Tochter hätte, die nach einem Selbstmordversuch von einem Gerichtspsychiater drangsaliert wird. Aber diese wäre ja eine Dame, und es würde sich so wohl von allem Anfang an alles anders gestalten. „Das ist also die Person?“ war das erste, was ich von ihm hörte. Der Primarius lächelte ein bißchen schief, es war ihm wohl nicht ganz angenehm, daß es so begann. „Sie haben sich also das Leben nehmen wollen. Möchten Sie uns nicht sagen, warum?“ Die Oberschwester hüpfte an das Fenster und sah mich von dort her bohrend an, der Primarius lächelte immer noch auf den Boden hin, und in der Glatze des Kleinen spiegelte sich höhnisch die Schreibtischlampe. Ich habe gelacht. Es war ein blödes und sicher sehr widerliches Lachen, und ich begreife, daß es nicht dazu beitrug, mich dem Kleinen sympathischer zu machen. „Wir haben nicht viel Zeit“, sagte er böse, und zum Primarius: „Ist sie überhaupt vernehmungsfähig?“ … Der sah daraufhin einen Augenblick eigentümlich auf und sagte: „Ich denke schon.“ … „Also bitte!“, bohrte das Scheusal ungeduldig weiter. Ich sagte stur: „Ich mag einfach nicht.“ … „Aber sie müssen doch einen Grund dazu haben. Wahrscheinlich hat sie der Freund verlassen, und es war nicht gleich ein anderer da, wie?!“ … „Es war überhaupt nie einer da.“ … „Ach so, na schön, aber nun erzählen Sie mir einmal, wie es zuhause zugeht. Sie haben ja noch Eltern, was sagen die, wenn sie solche Sachen aufführen? Wie?“ … Hier warf der Primarius etwas von Not und Elend ein, was natürlich übertrieben ist, aber entweder hatte er von meinen Andeutungen tatsächlich dieses Bild bekommen, oder er wollte mir einfach ein bißchen helfen, Der Kleine fragte zu ihm: „Aber warum arbeitet sie eigentlich nicht? Wenn sie auch etwas schwächlich zu sein scheint, so könnte sie immerhin einen leichteren Posten ausfüllen, und Arbeit vertreibt alle Dummheiten, die diese jungen Damen da im gewissen Alter manchmal ankommen. Von der Schule heraus auf einen ordentlichen, strengen Dienstplatz ist immer noch das beste Mittel gegen Hysterie. Na vielleicht haben Sie sie in einem Jahr so weit, daß man sie dann wo unterbringen kann.“ … „Sie will ja nur dichten.“ sagte da die spitze Stimme vom Fenster her. Alle lachten, warum hätte ich nicht auch lachen sollen? … „Ja, meine Teure –“, sagte da der Kleine, „diese Gewohnheiten wirst du dir freilich abgewöhnen müssen. Düchten mit Umlaut ü, gelt, wahrscheinlich kann sie nicht einmal ordentlich rechtschreiben, aber dichten will sie! Sehen Sie, Kollege, solche Geschichten kommen heraus, wenn jeder Bergarbeiter schon glaubt, seine Sprößlinge in Hauptschulen und so schicken zu müssen. Also, mein Kind, das Düchten überlaß du schön anderen Leuten, und wenn dich der Herr Primarius wieder zur Vernunft gebracht hat, so nach ein, zwei Jahren, dann sei froh, wenn du eine Gnädige bekommst, die dich zu allem Häuslichen ordentlich abrichtet. Verstanden?“ Ich war brennrot vor Wut, der Primarius dachte wohl, vor Angst, denn er hob heimlich unter dem Tisch sechs Finger hoch und meinte damit, dass ich ja nur die sechs Wochen für die Arsenkur hier bleiben brauche. Nein, ich sehe es schon ein, daß er es mir nicht leichter machen konnte, denn da die Gemeinde für die Kosten hier aufkommen muß, wird sie auch die entsprechende Unterlage und Bestätigung haben müssen, daß ich auch tatsächlich verrückt bin. Nun, das kann lieblich werden, wenn ich wieder heim komme. Aber damit mußte ich schließlich rechnen, als ich um Aufnahme hier ansuchte. Was habe ich eigentlich davon erwartet? Heilung wovon? Dachte ich wirklich, daß so und so viel Arsen, in gewissen Abständen eingenommen, meinem Leben einen Sinn geben würde?

Christine Lavant, aus:
„Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus“
© Otto Müller Verlag, Salzburg-Wien 2001


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Ich will das Brot mit den Irren teilen

Mittwoch, den 28. März 2007

A Simple Bell by osagelady@deviantart.com

Ich will das Brot mit den Irren teilen,
täglich ein Stück von dem großen Entsetzen,
auch die Glocke im Herzen,
dort, wo die Taube nistet
und ihre winzige Zuflucht hat
in der Wildnis über den Wassern.
Lange hab ich als Stein gehaust
am Grunde der Dinge.
Aber ich habe die Glocke gehört
leise von deinem Geheimnis reden
in den fliegenden Fischen.
Ich werde fliegen und schwimmen lernen
und das Steinerne unter den Steinen lassen,
die Schwermut betten in Perlmutter
doch den Zorn und das Elend erheben.
Meine Flügel sind älter als deine Geduld,
meine Flügel flogen dem Mut voraus,
der das Irren auf sich nahm.
Ich will das Brot mit den Irren teilen
dort in der furchtbaren Wildnis der Taube,
wo die Glocke das große Entsetzen drittelt
zum dreifachen Laut deines Namens.

Christine Lavant
aus: Gedichte. Suhrkamp Verlag 1988
© Otto Müller Verlag Salzburg 1978

••• Aller guten Dinge sind drei? Hier also noch ein weiteres grosses Gedicht von Christine Lavant…

Das Headset konnte ich schon mal aus den Umzugskisten fischen, um die Gedichte der letzten beiden Tage aufzunehmen. Die Beiträge wurden also aktualisiert.

Die Fremde aß des Gegengottes Haar

Dienstag, den 27. März 2007

Die Fremde aß des Gegengottes Haar,
sie wollte wachsen wie die Birkenruten,
der Sonne hold sein und den Mond beguten,
auch eine Hütte haben für das Jahr
der Heiligung und Gold am Heimzahltag.
Mir war sie fremd wie eine Abendspinne,
obwohl sie ständig mir am Herzen lag
und nacheinander alle meine Sinne
zu Waisen machte, um sie zu verkaufen.
Mit meinem Schatten ging sie Wetten-Laufen,
wenn ich erschöpft auf meinen Fersen hockte.
Oft, wenn vor Elend schon das Blut mir stockte,
sang sie als Lerche hoch auf meinem Scheitel,
wo ihr der Gegengott entgegenkam.
Ich ward so scheu, sie aber wandelt zahm
durch meinen Himmel und nennt alles eitel
und fühlt sich heilig unter meinem Dache,
trägt dort des Gegengottes Samen aus.
Mir stellt sie Fallen wie für eine Maus
und ich muß trachten, daß ich ständig wache,
sonst stiehlt sie mir auch noch den letzten Schlag
von meinem Herzen für den Heimzahltag.

Christine Lavant
aus: Gedichte. Suhrkamp Verlag 1988
© Otto Müller Verlag Salzburg 1978

••• Das Leiden der Christine Lavant wird oft auf ihre körperliche Krankengeschichte zurückgeführt. Doch woher rühren solch chronische Krankheiten? Ich bin immer geneigt anzunehmen, dass diese körperlichen Krankheiten Folgen eines ausgeprägten seelischen Leidens sind. Wie gewollt ist in diesem tieffrommen Haus das Kind, das sich nur als „des Gegengottes Samen“ empfinden kann? Das nichts gilt. Dessen Empfinden nichts gilt. Das nicht mithalten kann im Anbetungsmarathon der Mutter, die dabei das eigene Kind seelisch verhungern lässt.


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Meine Schwäche geht mit mir um

Montag, den 26. März 2007

Fortress by SirenniaStock@deviantart.com

Meine Schwäche geht mit mir um.
Sie duckt mich hinab zu den Straßensteinen
und läßt in verwunderten Krötenaugen
ihr Beigeselltes erstehen.
Niemand kauft mich dem los.
Entlegen schaukelt die Münze des Mondes
in viel zu schwarzen, zu mächtigen Wassern
für meine erstorbenen Finger.
Alles Gefühl wich aus ihnen zurück
und kauerte sich in den Handwurzeln nieder,
ängstlich, was ich befehlen werde
im Auftrag der Hoffnung.
Zitternd läutet mein Herz
den dreigeteilten heiligen Ton,
doch auf der Zunge liegt mir das Blei
des entschlossenen Schweigens.
Niemals will ich um Hilfe rufen.
Durch Straßensteine und Krötenaugen
folge ich meiner wütenden Schwäche
in die Festung des Vaters.

Christine Lavant
aus: Gedichte. Suhrkamp Verlag 1988
© Otto Müller Verlag Salzburg 1978

••• Je mehr ich wieder lese, desto öfter kehrt auch ein Gedanke wieder, der mir in den letzten Jahren nicht gefehlt hat und auf den ich gern verzichten würde. Der Gedanke nämlich, ob es nicht besser sei, es beim Schweigen und Lesen zu belassen. Wenn es nur ein Moment der Demut wäre angesichts dessen, was andere an Dichtung hervorgebracht haben, was schon gesagt wurde und wie… Aber es ist nicht Demut. Leider.

Die Entdeckung der Gedichte von Christine Lavant verdanke ich dem Turmsegler. Der Name war mir schon seit langem geläufig. Zum ersten Mal gehört hatte ich ihn von Charlotte Grasnick. Doch erst auf Empfehlung von Hans J. Hilbig aka Sturznest habe ich mir die von Thomas Bernhard besorgte und im Suhrkamp Verlag erschienene Auswahl gekauft. Was für Gedichte!

Der Eindruck hätte nicht grösser sein können, wenngleich meine Euphorie sich ein wenig relativiert hat, nachdem ich den ganzen Band mehrfach von vorn bis hinten und wieder zurück gelesen habe. Relativiert, ja. Aber davon ein anderes Mal mehr.