spatien-Sonderausgabe 2008

Der poetische Motor

Bevor ich aufgehört habe zu schreiben, habe ich aufgehört zu lesen. Wer nicht sprechen mag, hat keinen Verlust durch Schweigen. Nicht mehr zu lesen aber – zumindest was Dichtung betrifft – ist ein Verlust. Ich möchte wieder beginnen.

Mit diesen Worten begann der erste Beitrag meines Weblogs „Turmsegler“. Und sie waren gelogen.

Ich habe nach Erscheinen meines ersten Romans „Das Alphabet des Juda Liva“ als Journalist gearbeitet, x-hundert Seiten an Artikeln geschrieben: Kritiken, Reportagen, Meldungen – Texte mit extrem kurzer Halbwertzeit, klar, deutlich, sachlich und so weit von Literatur entfernt wie Alaska von Feuerland. Über fünf Jahre entstand in den wenigen Augenblicken des Innehaltens bei diesem Wettlauf mit dem journalistisch relevanten Tagesgeschehen ein neues Bändchen, ein poetisches Experiment, ein Balanceakt auf der Grenze zwischen Prosa und Lyrik. Und als es fertig war, meinte ich, ich hätte aufgehört, Autor zu sein. Ich hörte sogar auf, Journalist zu sein. Ich hörte auf zu schreiben. Und anders, als ich es im Auftaktbeitrag des „Turmseglers“ schrieb, habe ich es immer als einen Verlust empfunden.

Ja, es ist wahr, ich hatte auch aufgehört zu lesen und somit quasi die Nabelschnur der Inspiration durchtrennt, an der wohl jeder Künstler zumindest zeitweise hängt und hängen muss. Aber ich war nicht so einfältig zu glauben, dass die Unterbrechung der Lektüre das eigene Schweigen als Autor verursacht haben könnte. Ich wollte herausfinden, was mir den Mund zugenäht hatte. Und ich wollte herausfinden, warum ich es als Verlust empfand, wenn ich doch behauptete, gar nicht sprechen (also schreiben) zu wollen.

Warum hatte ich keine ernstzunehmenden Anstrengungen unternommen, für mein neues Buch einen Verlag zu finden? Warum stand der poetische Motor vollständig still, der doch immer zu brummen pflegte, seit ich mit etwa neun Jahren meine erste Geschichte ausgesponnen und aufgeschrieben hatte? Und warum störte mich die plötzlich eingetretene Stille?

„Ich möchte wieder beginnen.“ So stand es da. Und das traf zu. Ich bezog es zunächst auf das Lesen. Aber dahinter steckte der Wunsch, mit der Dichtung auch als Sprechender wieder zu beginnen. Ich würde aber, das war mir klar, meine Motivation hinterfragen müssen.

Zunächst plante ich, einfach Gedichte und Prosa-Exzerpte, die mir erinnerungswert schienen, zu sammeln und zu präsentieren. Davon rückte ich allerdings schon binnen einer Woche ab. Für den Turmsegler, sagte ich mir, müsste ich reflektierend lesen. Ich müsste berichten, warum ich mich an ein bestimmtes Gedicht erinnerte, warum ich ein bestimmtes Buch immer wieder oder auch nach längerer Zeit zum ersten Mal erneut in die Hand nahm. Und ich müsste berichten von der Andersartigkeit der wiederholten Leseerfahrung; denn dass ich die Texte mit zum Teil 20 Jahren Abstand ganz anders las als zu jener Zeit, da ich sie zum ersten Mal vor Augen gehabt hatte, das wurde schnell allzu deutlich.

Um beim Bild des poetischen Motors zu bleiben: Schnell stand ich wieder mit ölverschmierten Händen da, sah mich prüfen, abklopfen, schrauben und ölen. Ich begeisterte mich, und mit einem Mal sprang der Motor wieder an. Und er stotterte nicht einmal. Nein, er schnurrte.

Was die Gründe des Verstummens angeht, kann ich mich an eine Antwort nur annähern. Die alten Lügen mochte ich nicht wiederholen. Die Wahrheit aber konnte ich unmöglich preisgeben. So blieb mir gar nichts anderes übrig, als zu schweigen. Das ist eine vage Vermutung, der ich nachgehen muss.

Über die Motivationsfrage bin ich mir nach wie vor nicht im Klaren. Aber ich taste mich an eine Antwort heran. Auch einen neuen Verlag habe noch nicht gefunden. Der Anteil am „Turmsegler“, den meine neue eigene literarische Produktion ausmacht, ist denkbar gering. Aber ich stehe wieder im Diskurs. Ich lese und schreibe und habe Vergnügen daran. Der poetische Motor schnurrt. Metronom und Stichwortgeber verrichten ihren Dienst hinter den Kulissen in einer Selbstverständlichkeit, die es vor dem Verstummen nie gab. Ich schweige noch immer die meiste Zeit. Aber ich rede (also schreibe) auch – gerade so viel, dass ich die Phasen des wohl nötigen Schweigens nicht als Verlust empfinde.

1000 Seiten cummings

••• Zu den minderen Merkwürdigkeiten der DDR zählten Bibliotheken, zu denen der Zutritt gestattet war, in denen man jedoch den grössten Teil der im Katalog geführten Bücher nicht ausleihen durfte. Dazu kamen dann noch Bibliotheken, in denen man alle geführten Bücher hätte ausleihen können, zu denen jedoch der Zutritt nicht gestattet war.

Zur ersten Kategorie gehörte die Berliner Stadtbibliothek: Bücher, die im nicht-sozialistischen Ausland erschienen waren, konnte man ohne spezielle Genehmigung nicht ausleihen.

Zur zweiten Kategorie gehörte die Bibliothek der amerikanischen Botschaft in Ost-Berlin. Dort war man bereit, alle Bücher zu verleihen. Die Botschaft zu betreten war jedoch weniger ratsam.

Für ein ganz bestimmtes Buch habe ich mich damals entschlossen, die Verbote und Tabus zu missachten.

Zum ersten Mal gehört habe ich den Namen cummings in einem Film. Woody Allens „Hannah und ihre Schwestern“ lief im Fernsehen. Zwei der Protagonisten – ich glaube es waren Elliott und Lee – treffen sich da in einer Buchhandlung. Elliott nimmt einen grossen Wälzer aus dem Regal, die Ausgabe der „Complete Poems 1904-1962“ und zitiert aus „somewhere i have never travelled“:

nobody,not even the rain,has such small hands

Ich erinnere mich noch gut an den Untertitel der Szene:

niemand,auch nicht der regen,hat kleinere hände als du

Ich musste diese – zumindest vermutete – Schatztruhe amerikanischer Lyrik unbedingt selbst in die Hände bekommen. Und aus irgendeinem Grund hatte ich mir in den Kopf gesetzt, dass es genau diese Ausgabe sein müsste.

Nachdem Antiquariate und Bibliotheken mit der Ausgabe nicht dienen konnten und in der Stadtbibliothek kein Weg zur Ausleihe eines amerikanischen Lyrikbandes führte, war ich recht verzweifelt. Ich weiss nicht mehr, welcher Witzbold mir damals geraten hat, es doch in der Bibliothek der amerikanischen Botschaft zu versuchen. Ernst war der Rat wohl nicht gemeint. Aber ich zögerte nicht.

Das Getriebeöl von Diktaturen ist die Angst der Bürger. Ich war gewiss nicht besonders mutig, eher naiv; und ich hatte ein Ziel. Ich wollte dieses Buch. So bin ich 1987 in die amerikanische Botschaft geschlendert, als wäre es nichts. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine Sicherheitsschleuse mit Metalldetektor passiert. Der Sicherheitsbeamte am Eingang wies mir freundlich den Weg zur Bibliothek. Erst die Bibliothekarin machte mir klar, dass ich bis zu ihr gar nicht hätte vordringen dürfen und dass ich besser nicht zu lange bliebe. Den Band – ja – den hatte sie da und hievte ihn für mich aus dem Regal.

Da stand ich nun, tausend Seiten cummings in meinen Händen und nur wenige Minuten, um darin zu lesen. Dass ich noch einmal zurückkehren könnte, um das ausgeliehene Buch zurückzubringen, daran mochte die Bibliothekarin nicht glauben. So musste ich die vielen Gedichte, die doch entdeckt werden wollten, zunächst zurücklassen.

Ganz so unbehelligt, wie ich in die Botschaft hineingekommen war, kam ich nicht wieder hinaus. Eine Strassenecke weiter wollte ein Polizist dann doch meine Personalien aufnehmen und wissen, was ich in der Botschaft zu schaffen hatte. Ich wollte ein Buch ausleihen. Aha, na was denn auch sonst…

Zu den eher grösseren Merkwürdigkeiten der DDR zählte, dass man – wie ich meinen Stasi-Unterlagen entnehmen durfte – durch geringsten Kontakt mit einem US-Bürger verdächtig werden konnte, ein Agent des Klassenfeindes „auf der amerikanischen Linie“ zu sein. Da passt es natürlich ins Bild, dass man die amerikanische Botschaft aufsucht, um „ein Buch auszuleihen“, das man dann nicht einmal vorweisen kann.

Folgen hatte das Ganze nicht. Bestellt habe ich das Buch schliesslich 1993 über eine auf amerikanische Literatur spezialisierte Buchhandlung in Berlin. Mehrere Wochen musste ich warten, bis der Band aus Amerika eintraf. Das ist nun eines der Bücher, die ich an niemanden verleihe. Don’t even try it!

Ein Blatt fällte. e. cummings, aus: „Complete Poems 1904-1962“
Liveright Publishing, 1994

••• Nein, ganz leicht macht es uns e. e. cummings hier nicht. Für all jene, die hier ein Silbenrätsel vermuten – und die sich dessen auch sicher nicht zu schämen brauchen – hier eine Übertragung des Textes in die Ebene:

l(a leaf falls)onliness

Und als Versuch einer Übertragung ins Deutsche:

e(ein
bl
att

ll

t)
in
sam

keit

Dazu noch der Versuch der deutschen Übertragung, nun ebenfalls in die Ebene übersetzt:

e(ein blatt fällt)insamkeit

Natürlich gehört dieses Gedicht von oben nach unten gesetzt. Die Buchstaben zeichnen den Fall des Blattes nach. Das macht es dem Leser nicht eben leichter, aber ein wenig Versenkung darf schon abverlangt werden. Schliesslich wird man mit der vielleicht sparsamsten Möglichkeit, alles über ein fallendes Blatt zu sagen, belohnt. Oder – wie man es nehmen mag – mit einer der intensivsten und treffendsten Beschreibungen eines elementaren menschlichen Gefühls.

Chelsea, Auster, Moon

••• Vor 11 Jahren – 1996 – war ich zum ersten Mal in New York. Den Flug hatte Egon Ammann bezahlt. „Das ist Deine Stadt, hier musst Du unbedingt hin!“ hatte er mir geschrieben, handschriftlich auf Luftpostpapier aus einem New Yorker Hotel. Dieser Brief und das Flugticket waren mir geradezu ein Liebesbeweis. Und das von meinem Verleger. Ich war im siebten Himmel.

Tatsächlich fühlte ich mich in New York wie zu Hause, als ich schliesslich dort ankam. Da ich nur wenig Geld hatte, stieg ich in einem preiswerten, so genannten Jugendhotel ab. Das ertrug ich allerdings nur eine Nacht. Das Klo war verstopft; und die Kakerlaken in mir bis dahin unbekannten Grössen liefen nachts munter über die Bettdecke, so dass ich am nächsten Tag umgehend auscheckte und erneut auf Hotelsuche ging.

Das Chelsea Hotel wurde mir empfohlen – 222 West 23rd Street – ein Künstlerhotel mit bewegter Geschichte, wie mir versichert wurde. Das Zimmer dort war nicht teurer als das Kakerlakennest, heruntergekommen, aber sauber und frei von Ungeziefer.

Erobert habe ich mir New York zu Fuss. Tagelang bin ich durch Manhattan und Brooklyn gelaufen, ohne jene Quartiere zu meiden, vor denen ich wortreich gewarnt worden war.

In einem Book Shop in Soho habe ich mein zweites englischsprachiges Buch gekauft. Das erste, das waren ja – wie an anderer Stelle schon berichtet – cummings‘ „Complete Poems“. Das zweite war nun ein eher schmaler Band von Paul Auster: „Moon over Manhattan“. Es war mein erster Versuch mit englischer Prosa im Original. Beim ersten Durchgang blieb wenig übrig, beim zweiten mehr. Beim dritten schliesslich – auf dem Rückflug – war der Knoten geplatzt. Seither lese ich viel und gern auch auf Englisch. Das verdanke ich also Auster, denn hätten mir die Fragmente, die sich mir zunächst von seinem Buch erschlossen, nicht so sehr gefallen, hätten mich wahrscheinlich Mut und Geduld verlassen, bevor die Sprachbarriere dauerhaft hätte niedergerissen werden können.

Paul Austers Schreibmaschine, auf der er seit 1974 alle seine Werke geschrieben hat, stand zu jenem Zeitpunkt in Brooklyn. Mit ein bisschen mehr Chuzpe hätte man bei ihm klingeln können. Das wagte ich natürlich nicht. Zu sehen bekommen habe ich diese Schreibmaschine später aber doch, und zwar in Austers Film „Smoke“, in dem eine ganze Riege von Hollywoodgrössen in einem Tabakladen – der von Harvey Keitel betrieben wird – zusammentrifft und sich unterhält: übers Rauchen, aber natürlich nicht nur. Paul Auster spielt auch mit und die Schreibmaschine, wie könnte es anders sein, ebenso.

In der Zwischenzeit war ich mehrmals in New York als Journalist. Da wurde ich jeweils in Hotels mit klimatisierten Räumen in der Nähe des Central Parks untergebracht, bequeme Quartiere, aber mit deutlich weniger Flair. Im Chelsea Hotel war ich seither nicht mehr. Schade eigentlich. Das sollte man sich mal vornehmen. Auch wieder einmal Auster lesen. Seine „Story of My Typewriter“, die mir meine Liebste gestern zum Lesen gab, hat mir wieder Appetit gemacht.

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