…und berührte ihn nur mit den Fingern am Nacken

4. März 2009

Conchita Cintrón
Conchita Cintrón (1922-2009)

••• Vor geschätzten 25 Jahren heiratete eine entfernte Verwandte von mir einen in Ost-Berlin frisch approbierten Kinderarzt aus Ecuador und ging mit ihm nach Quito. Das hatte eine pikante Note. Ihr Ehemann verdankte sein Studium in der DDR der Kommunistischen Partei Ecuadors. Sie selbst hatte Marxismus-Leninismus studiert und war aufgewachsen in Mecklenburg-Vorpommern, im Grenzgebiet zur BRD. Besuchen konnte man sie dort nur, wenn man zuvor einen Passierschein beantragt hatte. Und nun verließ sie das Kleine Land mit ihrem Mann in Richtung Südamerika.

Während eines der eher seltenen Besuche berichtete sie von den Stierkämpfen in Quito. Es schien ihr ein wenig peinlich zu sein, dass sie sich für das blutige Schauspiel begeisterte. Und ganz wie vermutet fielen die Reaktionen der Familienmitglieder verhalten aus: von ungläubigem Unverständnis bis zu offenem Protest. Ich neigte, mit damals vermutlich 12 Jahren, eher dem Protest zu. Vom Stierkampf wurde fortan nicht mehr gesprochen.

In den folgenden Jahren las ich Hemingway, stand aber dem offenbaren Phänomen Corrida weiter verständnislos gegenüber. Ich entdeckte die unzähligen Tuschzeichnungen mit Stierkampfszenen von Pablo Picasso, die ich sehr liebte und mit Nadeln in meinem Zimmer an der Tapete befestigte. Wenn es dämmerte, huschten Stiere, Picadores, Banderilleros und Matadore über die Wände, aber ich begriff noch immer nicht, was Picasso wie Hemingway am Stierkampf so ungemein fasziniert hatte. Dann sah ich eines Tages im Kino die Rosi-Verfilmung von »Carmen« (mit Julia Migenes und Placido Domingo). Die Ouvertüre war mit Bildern eines Stierkampfes unterlegt. Das Blut des Stieres, das vom zerstochenen Nacken rann, war sehr rot und sehr wirklich. Der Stier starb, aber mir erschien die gesamte Szene – ästhetisch. Ich nahm das Gefühl befremdet und nicht ohne eine gewisse Scham zur Kenntnis. Seit diesem Kinoerlebnis wollte ich – zumindest einmal in meinem Leben – einen Stierkampf live von der Tribüne aus erleben.


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Advocate the Azure

1. März 2009

Emily Dickinson

Lift it – with the Feathers
Not alone we fly –
Launch it – the aquatic
Not the only sea –
Advocate the Azure
To the lower Eyes –
He has obligation
Who has paradise

Emily Dickinson (1830-1886)

••• Wieder eine Entdeckung in den »akzenten«: das unautorisierte Werk der Emily Dickinson. Nur sieben ihrer Gedichte wurden zu ihren Lebzeiten publiziert – und nicht etwa, weil sie verkannt worden wäre. Sie wollte es so, sandte nur ausgewählte Texte in Abschriften per Brief an wenige Freunde. Zwei Drittel ihrer Gedichte, nimmt man an, hat sie nie jemandem gezeigt. Ihr gesamtes Werk – an die 2.000 Gedichte – fand sich nach ihrem Tod in Kladden und auf Zetteln, handschriftlich notiert, mitunter schlecht lesbar, so dass bei vielen Gedichten Unsicherheiten bleiben, was den genauen ursprünglichen Wortlaut und so manche Zeichensetzung angeht. Mir imponiert diese Art des Schreibens, die sich an kein Publikum richtet und so auch keinerlei Rücksichten zu nehmen braucht.

Gunhild Kühler hat über 600 Gedichte von Emily Dickinson ins Deutsche übertragen. Erschienen sind sie bei Hanser in einer zweisprachigen Ausgabe, die ich mir noch besorgen muss. Man sollte unbedingt die Originale lesen. Wenn Gunhild Kühler für ihre Übertragungen auch mit dem Paul-Scheerbart-Preis 2008 geehrt wurde, gilt doch für ihre wie wohl für jede Lyrik-Übersetzung, dass sie mitunter nur eine mögliche Lesart in die andere Sprache zu transportieren vermag. Doch welche? Das muss man fragen, insbesondere bei einer Dichterin wie Dickinson.

Noch ein Zitat, dieses in Übertragung:

Den Zeitstrom runter
Steuerlos
So haben wir zu segeln
Geheim der Hafen
Sturm um uns
Und welcher Kapitän
Wagt so etwas und welcher
Freibeuter hißt sein Tuch
Ohne den Wind zu kennen und
Den Stundenplan der Flut –

At Work

26. Februar 2009

Walter Rodriguez, Angestellter bei Electric Time Co., reinigt das Zifferblatt einer über 2 Meter breiten Wegman-Uhr in einer Werkstatt in Medfield, Mass. Donnerstag, 30. 10. 2008. (Quelle: AP Photo/Elise Amendola)
Walter Rodriguez, Angestellter bei Electric Time Co., reinigt das Zifferblatt einer über 2 Meter breiten Wegman-Uhr in einer Werkstatt in Medfield, Mass. Donnerstag, 30. 10. 2008. (Quelle: AP Photo/Elise Amendola)

••• In den letzten Wochen musste ich viel unterrichten. Aber ich hatte seit langer Zeit auch mal wieder etwas zu programmieren. Nie vergehen die Tage schneller als über einem Programmierproblem. Nicht einmal beim Schreiben schalte ich so ganz und gar die Umgebung und andere Ablenkungen ab wie beim Brüten über einem komplexen Programmierproblem. Ein Foto von mir »at (coding) work« gibt es nicht. Aber die Herzdame hat einen Beitrag gefunden mit 45 Bildern von Menschen »at work« rund um die Welt. Viel Spaß beim Schauen!

Die Dämonen der Städte

24. Februar 2009

Ludwig Meidner: Apokalyptische Landschaft (1913)
Ludwig Meidner (1884-1966): »Apokalyptische Landschaft« (1913)

Sie wandern durch die Nacht der Städte hin,
Die schwarz sich ducken unter ihrem Fuß.
Wie Schifferbärte stehen um ihr Kinn
Die Wolken schwarz vom Rauch und Kohlenruß.

Ihr langer Schatten schwankt im Häusermeer
Und löscht der Straßen Lichterreihen aus.
Er kriecht wie Nebel auf dem Pflaster schwer
Und tastet langsam vorwärts Haus für Haus.

Den einen Fuß auf einen Platz gestellt,
Den anderen gekniet auf einen Turm,
Ragen sie auf, wo schwarz der Regen fällt,
Panspfeifen blasend in den Wolkensturm.


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Zwanzig Jahre Fatwa

23. Februar 2009

Salman Rushdie
Sir Salman Rushdie

Ich setze das stolze Volk der Moslems in aller Welt davon in Kenntnis, dass der Autor des Buches »Die satanischen Verse«, das sich gegen den Koran, den Propheten und den Islam richtet, und alle an seiner Publikation Beteiligten zum Tode verurteilt sind.

Ayatollah Ruhollah Chomeini am 14. Februar 1989

••• Mit Salman Rushdies »Satanischen Versen« (die deutsche Originalausgabe ist gelegentlich noch zu haben) verbindet mich eine besondere Geschichte, die in der »Leinwand« erzählt wird. Die Hälfte des Begrüßungsgeldes, das ich im November 1989 bei meinem ersten Besuch in West-Berlin bekam, trug ich in eine Buchhandlung auf dem Kurfürstendamm. Dieses Buch, das Autor, Übersetzer und Verleger das Leben kosten konnte und dennoch erschienen war, musste ich einfach besitzen. Ich wurde auch literarisch nicht enttäuscht. Dennoch habe ich es nur einmal gelesen. Aber ich besitze es noch; und es gehört sicher zu den Büchern, die ich um keinen Preis verleihe.

Reinhold Neven DuMont plante zunächst die deutsche Ausgabe und ahnte nicht, was da auf ihn zukommen würde. Nachdem er damit rechnen musste, dass eine Autobombe den Verlag in der Rondorfer Straße in Schutt und Asche legen würde, kapitulierte er, wofür er sich von Hans Magnus Enzenzberger als Feigling bezeichnen lassen musste. Im virtuellen Gemeinschaftsverlag »Artikel 19« erschien die deutsche Übersetzung dann doch im Herbst 1989. Dass sich Verleger, Übersetzer und Autoren damals zusammengetan haben, um gemeinsam das Risiko der Veröffentlichung zu tragen, halte ich noch immer für eine der wenigen wirklich rühmlichen Geschichten des deutschen Literaturbetriebs.

Ich bin nicht sicher, ob es heute auch zu einer solchen Demonstration der kulturellen Zivilcourage käme – nach den Attentaten vom 11. September und den kaum noch zu zählenden martialischen Entschlossenheitsbeweisen des islamischen Fundamentalismus, sich mit terroristischer Gewalt durchzusetzen.

Im Oktober 2006 konstatierte Rushdie im Österreichischen Fernsehen:

Als ich ein junger Mann war, war Religion im Wesentlichen am Ende. Leute, die von Religion sprachen, waren sozusagen Idioten. Es schien undenkbar, dass es ein Revival der Religion als zentrale Kraft in der Weltpolitik geben könne. Religion war uncool. Dummerweise haben, während wir damit beschäftigt waren, cool zu sein, die uncoolen Leute die Welt übernommen.

Unschwer zu teilen ist auch seine heutige Einschätzung:

Der islamische Fundamentalismus ist keine religiöse, sondern eine politische Bewegung, die eine religiöse Sprache benutzt.

Weiterführende Informationen in Textform gibt es u. a. auf dem Politbüro-Blog. Wer gar 14 min. erübrigen kann, um sich die WDR5-Zeitzeichensendung zum Thema anzuhören, sollte es tun.

Übrigens:

Nach dem offiziellen Protest der iranischen Regierung gegen den geplanten Ritterschlag der Queen für Salman Rushdie haben Hardliner innerhalb der iranischen Geistlichkeit, eine Gesellschaft zur Ehrung der Märtyrer in der islamischen Welt, ein neues Kopfgeld für den britischen Schriftsteller in Höhe von 150.000 US-Dollar ausgesetzt. Der Ritterschlag fand im Juni 2008 statt. (wikipedia)

Rushdie ist nach wie vor in Gefahr.

WDR5 Zeitzeichen vom 14. Februar 2009
zum 20. Jahrestag der Fatwa gegen Salman Rushdie,
seine Übersetzer und Verleger

Päpstliche Islamophobie

22. Februar 2009

••• Vernunft wird offenbar unter Juden wie unter Nichtjuden vom Ewigen nicht mit der Gießkanne verteilt. Während sich die unsägliche Debatte um die Exkommunikationsaufhebung der Pius-Brüder ein wenig zu beruhigen scheint, gießt Christian Böhme in der »Jüdischen Allgemeinen« vom 19. Februar erneut Öl ins Feuer und versteigt sich dabei noch mehr, als es bereits seine Vorredner taten.

Auf der Titelseite der »Jüdischen Allgmeinen« prangt ein Bild der Kaaba in Mekka unter dem Titel »Gegenreformation« und dem Teaser:

Der Papst rehabilitiert einen Schoaleugner und brüskiert damit Juden in aller Welt. Warum? Er fürchtet – den Islam.

1.3 Milliarden Muslime stünden heute 1.1 Milliarden Katholiken gegenüber. Der Islam sei auf dem Vormarsch.

Man kann sich die entsetzten Gesichter in den Gelehrtenstuben um den Petersdom herum gut vorstellen. Den Anspruch, die religiöse Weltmacht zu sein, stellen solche Zahlen offenkundig infrage.

Nicht genug, dass Böhme erneut die tendenziöse Unwahrheit von der »Rehabilitierung eines Schoaleugners« wiederholt (siehe auch: »Versagen der Diplomatie« und den ausführlichen Kommentar von Eliza dazu), er zitiert auch nochmals außerhalb jeglichen Kontexts den byzantinischen Kaiserausspruch, mit dem Benedikt XVI. im September 2006 Aufregung unter den Muslimen verursachte. Auch der erneute Hinweis auf die wieder zugelassene Karfreitagsfürbitte fehlt nicht. Und das alles auf der Titelseite der einzigen jüdischen Wochenzeitschrift in Deutschland.


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Sterbende Sprachen

19. Februar 2009

Weltweit sind rund 3.000 Sprachen vom Aussterben bedroht. Damit Sprachen wie Araki – das nur noch von acht Menschen auf der Pazifik-Insel Vanuatu gesprochen wird – nicht spurlos verschwinden, ist das Projekt „Soroso“ der Chirac-Stiftung derzeit damit beschäftigt, solche einzigartigen Tondokumente auf Film zu bannen. Langfristig soll so eine digitale Enzyklopädie der Sprache entstehen, wie ORF.at die Projektleiterin Rozenn Milin zitiert.

••• Die Sorben waren im Kleinen Land die einzige offizielle ethnische Minderheit und wurden – so kam es mir jedenfalls als Nicht-Sorben vor – gefördert. Sogar im Fernsehen gab es gelegentlich Sendungen in sorbischer Sprache. Auch das Sorbische, erfahre ich bei eliterator.de, sei nun vom Aussterben bedroht, wenn es auch noch nicht so schlimm ums Sorbische steht wie etwa ums Araki.

So nebenbei habe ich nun auch gelernt, dass Friesisch weder Mundart noch Dialekt, sondern eine eigenständige germanische Sprache ist (möglicherweise bald: war).

Was geschieht eigentlich mit der Dichtung dieser Sprachen? Stirbt sie einfach mit?