Literatur im 21. Jahrhundert ist der einzige Ort, das Andere zu verstehen, denn Literatur meint mitfühlende Menschlichkeit. Ich habe hier nicht die christliche Botschaft im Sinn. Ich meine die Fähigkeit, andere zu verstehen, und das Bewusstsein, mit ihnen verbunden zu sein. Um mitfühlen zu können jedoch, sollte man in der Lage sein, die Condition humaine zu begreifen, die Perspektive einer anderen Kultur zu verstehen, die Bedeutungslosigkeit von »Fremdheit« zu sehen.
Im kühlen Steinbauch
dröhnen noch die Preßlufthämmer –
so irdisch wird es hier
nie wieder zugehn.
In blauen Wattejacken
und gelben Helmen
die Männer,
in ihrer Wirklichkeit
bauen sie den Traum:
endlicher Abschied
von Kriegen
kehren sie den Engeln
den Schutt aus dem Haar
und den Staub
von den Flügeln
II
Jeder neue Stein
ist erkennbar,
die alten Steine
sind dunkel.
Was haben wir überlebt,
daß wir so schwer
zu beeindrucken sind?
Ein Geländer aus Eisen,
das die Zeit noch zurückließ –
Stufe um Stufe
führt uns nach oben:
ein Schritt Zweifel,
ein Schritt Hoffnung.
Charlotte Grasnick (1939-2009)
••• Eben erst habe ich nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub den Anrufbeantworter abgehört. Nur eine Nachricht: Charlotte ist tot. Anfang April noch haben wir telefoniert und über die »Leinwand« gesprochen. Charlotte hatte die Chemo überstanden, und ich war fest davon überzeugt, dass sie es schaffen würde. »Weißt Du«, sagte sie: »So viel Zeit brauche ich ja nicht mehr, um die paar Geschichten zu beenden, die ich noch schreiben will…« Das waren jene poetischen Prosastücke, deren erste Anfänge ich Mitte der Neunziger für sie in den Computer getippt hatte und die ich so gern eines Tages als Buch in Händen gehalten hätte. Die Zeit aber hat wohl nicht gereicht.
Ein Schritt Zweifel, ein Schritt Hoffnung – das war Charlottes »Gangart« als Dichterin. Die Zweifel waren ihr oft unüberwindbares Hindernis. So blieb manches unvollendet. Die Hoffnung aber trieb sie immer wieder an, dennoch und vielleicht gerade deswegen erneut zu versuchen, Worte für vermeintlich Unsagbares finden. Leicht war es nicht, sich in einer Künstlerfamilie von Männern zu behaupten – der Ehemann, Ulrich Grasnick, Lyriker wie sie, die beiden Söhne, Thomas Grasnick und Stefan Friedemann, Maler. Ich habe ihr immer mehr Beachtung gewünscht – nicht nur als Dichterin.
Ich persönlich mag die Zukunft nicht, da ich sie nicht kenne. In Chile kam einmal eine Zigeunerin auf mich zu und fragte: »Darf ich Ihnen aus der Hand lesen? Ich kann weissagen.« Ich sagte: »Gnädige Frau, bitte lassen Sie meine Zukunft Zukunft bleiben, denn ich möchte in der Gegenwart möglichst wenig darüber wisssen.« Daraufhin lobte sie mich als einen klugen Menschen.
••• Im April war ich für ein Wochenende in Berlin. Beim Sonntagsbrunch traf sich meine Abiturklasse – zum ersten Mal nach 20 Jahren. Wiedergetroffen habe ich dort auch einen Schulfreund, mit dem ich damals schon oft und angeregt diskutiert habe – über »Gott und die Welt«, wie man so sagt. Wir waren umgehend wieder im besten Gespräch, als hätten wir den Austausch nur kurz unterbrochen.
Einige Tage vor dem Urlaub erreichte mich ein Päckchen von ihm mit Büchern von Humberto Maturana. Das war mit Abstand die interessanteste Urlaubslektüre, die ich je mit auf Reisen genommen habe. Dabei ist Maturana nicht etwa Dichter, sondern – Biologe.
Worum drehen sich Maturanas Thesen? Die Welt, in der wir leben, könnte man subsumieren, ist nicht außerhalb, nicht unabhängig von uns; wir erschaffen sie gemeinsam im Prozess des Erkennens und im Verwandeln der Erkenntnis in Sprache. Realität finden wir nicht »draußen«; vielmehr entsteht sie im Auge des Betrachters. Bewußtsein schließlich findet nicht im Gehirn statt (das keineswegs, wie gern angenommen, mit verlässlichen sinnlichen Repräsentationen einer »objektiven, realen« Außenwelt operiert), sondern in den Beziehungen der Menschen untereinander.
Maturanas Ideen von der Autopoiese aller »lebenden Systeme« mit all ihren Implikationen werden mich noch eine Weile beschäftigen.
••• In den beiden Schöpfungsgeschichten, wie sie in der Bibel zu finden sind, spielt Sprache eine zentrale Rolle. Obwohl die beiden Schöpfungsberichte (sowohl in den beschriebenen Ereignissen als auch in den angewandten literarischen Stilmitteln) nicht unterschiedlicher sein könnten, haben sie doch eines gemeinsam: In beiden dient Sprache in der einen oder anderen Form als Schöpfungswerkzeug. In dieser kurzen Serie von Beiträgen werde ich die Rolle der Sprache in den Schöpfungsgeschichten, wie sie in Genesis 1 und in Genesis 2 erzählt werden, etwas genauer untersuchen und aus diesen Überlegungen heraus im letzten Beitrag schließlich auch die Gründe herauszuarbeiten versuchen, die zur Vertreibung des Menschen aus dem Paradies führten.
••• Markus A. Hediger schickt nicht nur in seinem neuen Litblog »Nach Eden« seinen Protagonisten André Baquero Brun auf Entdeckungsreise, nebenher teilt er in seinem ebenfalls neuen Blog »LektURL« die eine oder andere Entdeckung mit uns, gefunden in Büchern oder online. Sein heutiger Hinweis auf den US-Filmstudenten Jacob Mendel hat mich sehr gefreut; und während Markus auf Mendels Video »The Waking Artist« verweist, möchte ich hier ein anderes seiner Videos zeigen: Tom Waits and sheep at night in the museum…
Ich erinnere mich noch lebhaft an meinen ersten Besuch als Kind im Ost-Berliner Naturkundemuseum. Das Prachtstück der dortigen Ausstellung war (neben dem Archeopterix) das vollständige Skelett eines Brachiosaurus brancai. Ich hatte nach diesem Besuch einige schlaflose Nächte, während derer ich meinte, die Saurier lugten aus der Dunkelheit der Nacht durchs Fenster zu mir herein…
••• Das 300 Jahre alte und höchst angesehene Amt des Oxford professor of poetry war jüngst neu zu besetzen. Und es wurde mit härtesten Bandagen gekämpft. Zunächst wurde der Favorit Derek Walcott aus dem Rennen geschlagen – und zwar mit einer anonym initiierten Kampagne, die an unerfreuliche, sexuell gefärbte Ereignisse seines Vorlebens erinnerte. Walcott verzichtete auf die Kandidatur, und die Mitbewerberin Ruth Padel wurde auf den ehrenwerten Posten gewählt. Nun trat auch sie nach nur wenigen Tagen zurück, denn es wurde ruchbar, dass sie höhstselbst die Informationen gestreut hatte…
Wat ne schmutzige Nummer! Aber da ist was los in Oxford, das muss man schon sagen.