In Memoriam Truman Capote

31. August 2009

Ein Gastbeitrag von D. G. Myers
(Englische Originalversion v. 25. 08. 2009)

Truman Capote

••• Heute ist die Jahrzeit von Truman Capote, der fünfundzwanzigste Jahrestag seines Todes wegen einer »Lebererkrankung, kompliziert durch Venenentzündung und multipler Drogenvergiftung«, wie der Untersuchungsbeamte des Bezirks Los Angeles pflichtgemäß berichtete – wenngleich Jahrzeit womöglich nicht das passende Wort ist im Zusammenhang mit jemandem, der einst »die jüdische Mafia in der amerikanischen Literatur« attackierte, die »den Literaturbetrieb weitgehend kontrolliert« mithilfe von »jüdisch dominierten« Publikationen, die »das Schicksal von Schriftstellern in der Hand haben, indem sie ihnen Aufmerksamkeit schenken oder sie zurückhalten«.1

Die Provokation, die sich hinter Capotes Ausfall verbirgt, offenbart sich nicht auf den ersten Blick. Von »Commentary«, der am stärksten von Juden beherrschten Publikation von allen, kann kaum behauptet werden, dass sie »In Cold Blood« (»Kaltblütig«), überging, hat sie dieses Buch in ihrer Ausgabe vom Mai 1966 doch mit immerhin 2.200 Wörtern gewürdigt. William Phillips, der Rezensent, der zufällig auch die »Partisan Review« herausgibt, eine weitere von Juden beherrschte Publikation, räumte sogar ein, dass das Buch »auf seine Art gut« sei, wenn er auch die Frage hinzufügte – »wie in dem alten jüdischen Witz – ob ‚Kaltblütig‘ auch gut für die Literatur sei«.2 Vielleicht hatte Truman keinen Sinn für jüdischen Witz.


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Was es ist

30. August 2009

Faksimile - Erich Fried: Was es ist
Ericht Fried: Was es ist (Faksimile)

Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe

Erich Fried (1921-1988)

••• Als ich mich letztens an Brechts »Erstes Sonett« erinnerte, suchte ich panisch nach dem Band mit seinen Liebesgedichten, einem meiner liebsten und meistgelesenen Lyrikbände, eine DDR-Publikation und sehr wahrscheinlich nicht zu ersetzen, wäre er verloren gegangen. Hätte ich es tatsächlich nicht gefunden, hätte ich letzte Woche über diesen Verlust schreiben müssen, statt das Gedicht hier zu bringen. Das waren Augenblicke ernstzunehmender Panik.


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Rodrigues an der Ampel

28. August 2009

»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger

Gestern ist mir Nelson Rodrigues wieder über den Weg gelaufen.

Ich hatte eine Verabredung um halb zehn. Da ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln dieser Stadt noch nicht vertraut bin und nur schlecht einschätzen kann, wie lange ich von A (meinem Zuhause) nach B (meiner Verabredung) brauche, brach ich an diesem Morgen kurz nach acht auf. Zu meiner Überraschung stand ich eine halbe Stunde später schon vor der gesuchten Tür. In Brasilien gehört es sich nicht, zu früh zu kommen. Also schlenderte ich weiter und fand mich nach fünf Minuten am Strand von Copacabana wieder. Es war ein herrlicher Morgen, die Sonne schien, einige Senioren spielten Strandvolley, ein paar wenige Frauen joggten die Promenade entlang. Ich setzte mich an eine Strandbar und bestellte einen frischgepressten Orangensaft.

Wie jeder, der nach einer längeren Absenz wieder nach Hause zurückkehrt und sich die lokalen Gepflogenheiten wieder angewöhnen muss, fühlte auch ich mich wie ein Fremdkörper in dieser Stadt. Das bevorstehende Treffen machte mich nervös, es war wichtig, dass ich die Gelegenheit, die sich mir bot, nicht durch einen kulturellen Fauxpas oder eine ungewollte Unhöflichkeit verspielte.

Es war jetzt viertel nach neun. Zeit also, aufzubrechen. An einem Fußgängerstreifen musste ich warten, bis die Ampel für den dichten Verkehr auf rot umschaltete. Neben mir stand eine alte Frau in Begleitung ihrer Betreuerin und wies mit ihrem Gehstock auf den vorbeibrausenden Verkehr.

»Es sind so viele!« rief die alte Dame aus. »Es sind so viele!«


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Das erste Sonett

28. August 2009

Holding Hands © orangevolvogrl86@deviantart.com (2003)
Holding Hands – © orangevolvogrl86@deviantart.com (2003)

Als wir zerfielen einst in Du und Ich
Und unsere Betten standen Hier und Dort
Ernannten wir ein unauffällig Wort
Das sollte heißen: ich berühre dich.

Es scheint: solch Redens Freude sei gering
Denn das Berühren selbst ist unersetzlich
Doch wenigstens wurd »sie« so unverletzlich
Und aufgespart wie ein gepfändet Ding.

Blieb zugeeignet und wurd doch entzogen
War nicht zu brauchen und war doch vorhanden
War wohl nicht da, doch wenigstens nicht fort

Und wenn um uns die fremden Leute standen
Gebrauchten wir geläufig dieses Wort
Und wußten gleich: wir waren uns gewogen.

Bertolt Brecht (1898-1956)

••• Was weiß denn ich, welche Wege mitunter die Assoziationen nehmen?! Heute fielen mir spontan zwei Bruchstücke dieses Gedichtes ein. Da war zunächst das erste Quartett und dessen Schluss: »ich berühre dich«. Und die letzte Zeile wusste ich noch: »Und wußten gleich. wir waren uns gewogen.«

Ich berühre dich… Wieviel Zärtlichkeit steckt in diesen drei Worten!


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Die Grenze

27. August 2009

Meine Tochter hat mich gefragt,
ob ich ihr Kaugummi mitgebracht hätte.

Ich sagte, ich hätte kein Kaugummi mitgebracht,
aber dafür sei ich jetzt wieder da.

Sie erwiderte, ich sei das eine,
Kaugummi sei dagegen etwas gänzlich anderes.

Ich wies sie darauf hin, sie könne nicht
immerzu irgendetwas erwarten.

Sie berichtigte mich:
»Nicht irgendetwas, sondern Kaugummi.«

Und obgleich die Sonne schien
und die Vögel um die Wette sangen

und das Gras im Park leuchtend grün war,
weinte meine Tochter wie eine Gießkanne.

Eine glückliche Welt gibt es und eine unglückliche,
zwischen den beiden – ein Kaugummi.

Kristin Dimitrova
Aus dem Bulgarischen von Norbert Randow
akzente 4/2009, Hanser Verlag

akzente 4/2009••• Eine Woche war die Familie getrennt. Erst fuhr ich nach Antwerpen, dann, vor meiner Rückkehr, die Herzdame nach Gruyéres, um das dortige Giger-Museum zu besichtigen. Die Kinder verbrachten ein paar aufregende Tage bei der Oma. Morgen kommen sie zurück. Und ich bin vorbereitet: Aus Antwerpen habe ich eine große Tüte Kaubonbons mitgebracht. Also hoffe ich, dass keiner weinen muss »wie eine Gießkanne«.

Bei meiner Rückkehr am Sonntag fand ich im Poststapel die diesmal in orange gehaltene akzente-Ausgabe 4/2009. Ulrike Almut Sandig hat die höheren Weihen des akzente-Covers erhalten. Das hat mich ungemein gefreut, die neuen Gedichte von ihr ebenso. Aber, darf ich sagen, die Freude wurde noch gesteigert. In den letzten Tagen habe ich den von Tzveta Sofronieva zusammengestellten Querschnitt durch die bulgarische Poesie der Gegenwart gelesen; und diese Gedichte waren, Sandigs Texte in Ehren, die eigentliche Entdeckung in diesem Heft.


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Der freundliche Gast

26. August 2009

»Krötenwanderung« • Eine Gastkolumne von Markus A. Hediger


Foto aus dem Archiv von Werner Hediger

Lacerda beobachtete liebevoll seinen Schüler, der hungrig mit beiden Händen in den Teller griff und sich, wie das hier im brasilianischen Inland Sitte war, die Reisbällchen mit dem Daumen von der Handfläche in den Mund schob. Er reichte ihm eine Gabel und brachte ihm geduldig bei, wie sie zu bedienen war.

»Ein Politiker macht sich die Hände nie schmutzig«, belehrte Lúcio Lacerda den jungen Antônio Carlos Murillo schmunzelnd. »Das erste, was du lernen musst, ist, mit Besteck zu essen.«

Das war vor dreißig Jahren.
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D. G. Myers zu »Kaltblütig«

26. August 2009

••• Ich lese mit andauernder Begeisterung D. G. Myers‘ »A Commonplace Blog«. Myers ist Associate Professer for English and Religious Studies an der Texas A&M University. Seine Artikel – publiziert in einschüchternder Länge und Frequenz – zeugen von seinem umfassenden Wissen nicht nur im Bereich der Literatur. Entdeckungen und neue Erkenntnisse sind garantiert, wenn man im »Commonplace Blog« stöbert.

Anlässlich meiner gestrigen Reminiszenz an Capote kam ich auf die Idee, Myers anzuschreiben und um einen Gastbeitrag zu Capote zu bitten. »Frühstück bei Tiffany« bescherte mir im letzten Jahr zwei glückliche Tage. Es ist nach meiner unmaßgeblichen Überzeugung einer der wenigen wirklich makellosen Romane, die ich je gelesen habe.

D. G. Myers sagte spontan zu und schickte wenig später seinen Beitrag. Ich hatte vor, ihn zu übersetzen und zeitgleich mit Myers Originalversion in seinem Blog hier im Turmsegler zu publizieren. Das ist mir nicht gelungen. Für die Übersetzung hätte ich sicher einen Tag gebraucht (und werde sie nachreichen, wenn die Turmsegler-Leser das wünschen). Vor allem aber war der Beitrag, als ich heute morgen (in anderer Zeitzone als Myers) erwachte, bei ihm bereits erschienen.


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