30. Juni 2010
Nähe und Unvereinbarkeit zweier Konzepte
Ein Gastbeitrag von Chaim Noll
Menschenbild
»Gott ist gütig gegen alle, und sein Erbarmen waltet über all seinen Geschöpfen«, heißt es in Psalm 145,9. In dieser Textstelle wird – stellvertretend für viele – das entscheidende Kriterium des biblischen Menschenbildes ausgesprochen: die Gleichwertigkeit aller Menschen vor dem Schöpfer. Das Volk der Bibel hält sich nicht für besser oder moralischer als andere Völker und Religionen. Die hebräische Bibel versucht nirgendwo, Israel zu glorifizieren. Eher im Gegenteil: alle seine Schwächen und Verfehlungen werden in einer Offenheit dargestellt, die nicht wenige Judenfeinde zu dem irrigen Eindruck verführt, es handle sich um ein schwaches, von seinem eigenen Gott »verworfenes« Volk. Auch Mohamed, der seinerseits eine gänzlich andere Selbstdarstellung zelebrierte, verfiel dieser Täuschung.
Die »Erwähltheit« des biblischen Volkes ist als Verpflichtung gemeint, als kritischer Anspruch an sich selbst, nicht als Erhöhung über andere. Der Text betont, dass die Flüchtlinge aus Ägypten, die am Berg Sinai das Gesetz empfingen, nur zu einem Teil Hebräer waren, zum anderen Teil Unterdrückte und Verzweifelte anderer Völker, die sich ihnen angeschlossen hatten, im hebräischen Original erev rav(50), a mixed multitude in der Übersetztung der King James Bible, fremdes Volk in der Luther-Bibel, und diese Fremden »stiegen mit Israel auf«, wie das Verb alah im Hebräischen wörtlich meint, sie nahmen das Gesetz an wie die Hebräer, und schon von daher ist das Sein und Wesen Israels seit seiner eigentlichen Geburtsstunde mit Fremden verbunden.
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29. Juni 2010
••• Da wir gerade bei den »ewigen Büchern« sind…
Antwortet doch Marcel Reich-Ranicki (90) in seiner FAZ-Rubrik heute auf die Frage »Welchen literarischen Wert hat Ihrer Einschätzung nach die Bibel?« sehr trocken: »Mit diesem Thema werde ich mich vielleicht später befassen.«
(Tusch…)
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29. Juni 2010
Nähe und Unvereinbarkeit zweier Konzepte
Ein Gastbeitrag von Chaim Noll
Verbindlichkeit des Textes (textus receptus)
Die für Europäer ohnehin schwierige Rezeption des Koran wird noch schwieriger durch die nicht gesicherte Eindeutigkeit des Textes. Bis heute variieren seine »Lesarten« (tafsir al koran) so erheblich, dass bereits das Lesen des Textes eine erste Interpretation darstellt(38). Nicht nur Außenstehende, auch Muslime können in vielen Fällen keine Einigung erzielen, wie ein bestimmtes Wort zu lesen und zu sprechen ist, folglich, welche Bedeutung es hat. »Es gibt keinen uniformen Koran-Text«, schreibt Ignaz Goldziher in seinem Standardwerk »Die Richtungen der Islamischen Koranauslegung« von 1920. »Der schon an sich (…) nicht einheitliche textus receptus, die lectio vulgata (al kira’a al mashhura) des Koran geht auf die Redaktion zurück, die durch die Bemühungen des dritten Kalifen, Othman, zustande kam, um der drohenden Gefahr vorzubeugen, dass das Gotteswort in verschiedenen Kreisen in textlich voneinander abweichenden Formen überliefert würde (…) Jedoch diese Bestrebung ist nicht auf der ganzen Linie gelungen.«(39)
Unter den Ursachen für die Mehrdeutigkeit des Textes sind sprachliche, vor allem die »Eigentümlichkeit der arabischen Schrift, in der dasselbe grafische Skelett je nach der Verschiedenheit und der Anzahl der über oder unter dasselbe gesetzten Punkte verschiedene Lautwerte darstellt und wo auch bei gleichen lautlichen Werten die Verschiedenheit der in der ursprünglichen arabischen Schrift fehlenden Vokalbezeichnung eine Verschiedenheit der grammatischen Situation eines Wortes und, in Zusammenhang damit, in der Bedeutung desselben hervorruft.«(40) Hinzukommen zahlreiche andere Gründe für die Strittigkeit einzelner Worte und Passagen des Koran-Textes, nicht zuletzt politische. So hat die shiitische Richtung des Islam seit der frühesten Zeit ihres Auftretens die Integrität der othmanischen Textgestaltung bezweifelt und abgelehnt. Diese enthalte, behaupten die Shiiten, gegenüber dem echten Koran Mohameds unzulässige Änderungen und Zusätze, während andere Passagen des authentischen Textes durch Weglassung getilgt worden seien(41).
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28. Juni 2010
Nähe und Unvereinbarkeit zweier Konzepte
Ein Gastbeitrag von Chaim Noll
Textstruktur und –konsistenz
Der Koran ist ein Monolog. Er besteht aus 114 Suren oder Gesängen in Versform. Es gibt nur einen einzigen Sprecher, den Propheten Mohamed, der die göttliche Wahrheit zu besitzen erklärt und sie einem schweigenden Publikum mitteilt. Der Koran unterscheidet sich daher generell von der Bibel, die viele literarische Formen, zahlreiche Sprecher und immer andere Erzählweisen kennt.
Die biblischen Darstellungsweisen betonen, schon durch ihre textliche Struktur, den Dialog, die Interaktion zwischen verschiedenen Größen. Zunächst zwischen der erschaffenden Urkraft elohim und der zu gestaltenden Materie, dann zwischen den Menschen und ihrem Schöpfer, den Juden und ihrem Gott, später, auch in den Evangelien, von Juden untereinander. Es ist sozusagen das dualistische Prinzip des Monotheismus. Denn Monotheismus ist nicht zwangsläufig Monismus: immer wieder in der Bibel ist das Aufweisen und Überwinden von Widersprüchen – bis hin zum offenen Streitgespräch – die vorgeführte Methode der Erkenntnis- und Wahrheitssuche, in den Mosaischen Büchern, bei den Propheten, im Buch Hiob, im Kohelet, in der Sammlung der Sprüche oder in den zahlreichen Debatten des Neuen Testaments. Wegen dieser ungleich komplizierteren Textstruktur ist die Bibel das mit weitaus mehr Mühe zu rezipierende der beiden Werke.
Aus Judäa vertriebene Juden lebten in Mohameds Tagen seit rund einem Jahrtausend in Babylonien, arbeiteten dort, hielten die in der Bibel gebotenen Gesetze, studierten und lehrten. Zudem gab es zahlreiche christliche Gemeinden in der Region, die großen Städte waren oft Bischofssitze. Viele Beduinen der arabischen Halbinsel gerieten unter den Einfluss der Bibel. Unter dem Namen allah, abgeleitet vom alten hebräischen Gottesnamen al(23), wurde ein alleiniger, allvermögender Ein-Gott angebetet, ein Welterzeuger und Weltgebieter. Um 610 begann auch Mohamed, ein Sohn des Beduinenstammes Koresh, öffentlich als Prediger für diesen Gott zu wirken.
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27. Juni 2010
Nähe und Unvereinbarkeit zweier Konzepte
Ein Gastbeitrag von Chaim Noll
»Um einander zu verstehen, müssen wir über
das sprechen, was uns unterscheidet.«(1)
Im Folgenden soll vergleichend von zwei Büchern die Rede sein, von zwei Textwerken und geistig-religiösen Konzepten, die durch das Hervorgehen des Einen aus dem Anderen eng miteinander verbunden sind. Die welthistorische, kulturprägende, zu gesellschaftlicher Aktion inspirierende, Krieg und Frieden evozierende Wirkung beider Texte ist ihre erste ins Auge springende Gemeinsamkeit, wobei in beiden Fällen, Bibel wie Koran, vorsorglich darauf hingewiesen werden muss, dass ein religionsstiftendes Buch, überhaupt ein ideell-religiöses Konzept, mit den Aktionen der Menschen, die sich darauf berufen, nicht identisch ist.
Richtiger wäre, von drei Büchern zu sprechen, denn die hebräische und die christliche Bibel sind bekanntermaßen nicht identisch. Doch da die christliche »Heilige Schrift« die gesamte jüdische Bibel, den hebräischen tanach, in einer von Juden angefertigten griechischen Übersetzung, der Septuaginta, ihrerseits kanonisiert und unter dem Namen »Altes Testament« in sich aufgenommen hat, ist aus christlich-europäischer Sicht die jüdische Bibel erklärtermaßen Bestandteil des eigenen Konzepts(2). Anders als der Koran hat das Christentum die ursprünglichen Bücher der Juden unverändert als religiöse Grundlage beibehalten, ihr Menschenbild, ihr Konzept von der Gleichheit aller Menschen vor dem Schöpfer, ihren Moralkodex, das von Nietzsche verächtlich als »Sklavenmoral« verworfene Mitgefühl mit den Schwächeren, mit Frauen und Kindern, mit dem »Fremden, der in deinen Toren wohnt«, die Abschaffung der lebenslangen Sklaverei(3).
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27. Juni 2010
••• Aus dem Beitrag über Chaim Nolls Essay in »Sinn und Form« hat sich per E-Mail noch eine weitere Diskussion mit dem Autor entsponnen. Im Ergebnis freue ich mich nun, den Turmseglern in den nächsten Tagen einen jener Essays von Chaim Noll, die für mich sehr wichtig waren (und sind), in Fortsetzungen präsentieren zu dürfen: »Bibel und Koran«.
Chaim Noll setzt sich in diesem Essay mit den Fragen des Trennenden und Verbindenden zwischen der jüdisch-christlichen und der muslimischen Überlieferung auseinander. Ich hoffe, dass dieser Beitrag für die Turmsegler ebenso erhellend sein wird, wie er es für mich war, als ich ihn zum ersten Mal las. Wenn es Fragen gibt, wird Chaim Noll sich sicher gern per Kommentarfunktion in unsere Runde begeben.
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18. Juni 2010
Die Wüste Negev • Quelle: Wikipedia
To see a world in a grain of sand,
And a heaven in a wild flower,
Hold infinity in the palm of your hand,
And eternity in an hour.
William Blake (1757-1827)
aus: »Auguries of Innocence« (1803)
••• Die Schrift – und damit die Literatur – kommt aus der Wüste. Was wunder, dass die Literatur aller Epochen immer wieder zum Sujet der Wüste zurückkehrt? So schreibt es Chaim Noll in seinem ebenso poetischen wie stoffreichen und inspirierenden Essay »Die Metapher Wüste • Literatur als Annäherung an eine Landschaft«, erschienen im Heft 3/2010 der »Sinn und Form«.
Geschrieben ist der Essay bereits 2005. Unter dem Titel »Jenseits der Katastrophen • Die Erforschung der Wüste als existenzielles Konzept« kann man ihn von der Website Chaim Nolls als PDF herunterladen. *)
Wie kann es sein, dass ein und derselbe Artikel zwei so unterschiedliche Titel tragen kann? Tatsächlich leistet Chaim Noll hier erstaunlich Interdisziplinäres. Er berichtet von der momentan weltweit voranschreitenden Desertifikation (dem Zu-Wüste-Werden) großer Landflächen, gibt ein wenig Einblick in den aktuellen Stand der Wüstenforschung; vor allem aber nähert er sich dem Thema als Literat vor einem psychologischen und auch religiösen Hintergrund.
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Tags: Chaim Noll • Literaturzeitschriften • William Blake • Poetik
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