Dein Auge, sagte er

2. Februar 2011

Auge • © Thomas Seliger
Auge • © Thomas Seliger

Dein Auge, sagte er.

Das traf mich wie ein gezielter Schlag in den Magen. Wie wenig hatte ich doch erreicht! Mein positives Körpergefühl war von den Füßen aufgestiegen, aber unter der Augenlinie hatte es halt gemacht. Es genügte offenbar noch immer die bloße Erwähnung meines unübersehbaren Defekts, um mich in die Gefühlswelt meiner Kindheit zurück zu katapultieren, in ein Chaos aus Verletzungen, Scham und Wut darüber, nicht ändern zu können, weswegen ich begafft und gehänselt wurde. Es konnte doch wohl nicht möglich sein, dass ausgerechnet Matana, der dieses Gefühl kennen musste, einem ähnlichen Impuls der Neugier nachgegeben hatte.

Natürlich wusste ich, dass er sich für Augen interessierte. Als Biologe hatte er sich über Jahrzehnte mit dem menschlichen Sehvermögen und den Ursachen verschiedenster Sehstörungen beschäftigt. Es war auch kein Zufall, dass das Logo seiner Firma ein Paar weit geöffneter Augen darstellte. Matanas Vision war es, Blinde sehend zu machen, was nach seiner Vorstellung bedeutete, ihnen eine Welt zu Füßen zu legen oder – noch genauer – eine Welt für sie zu erschaffen.


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In Angriffsstellung

1. Februar 2011

Matana war nie ein typischer Silicon-Valley-Entrepreneur. Er ist spät nach Kalifornien gekommen. Die meiste Zeit seines Lebens hat er in Chile verbracht. Dort ist er aufgewachsen, dort hat er studiert, promoviert und mehrere Jahrzehnte als Professor gelehrt. Dass er schließlich 1990 in die Staaten kam und seine Forschungen in einem Privatinstitut unter Ausschluss selbst der akademischen Öffentlichkeit fortführte, provozierte allerlei Irritationen – und Neid. Über Matanas Geschicklichkeit bei der Finanzierung seiner Forschungen kursierten schon bald diverse Gerüchte. Das Unternehmen, das er selbst gern als unabhängigen think tank bezeichnet, gehört ihm nicht allein. Die ebenso geduldigen wie finanzstarken Anteilseigner halten sich jedoch so diskret im Hintergrund, dass kaum jemand weiß, woher die Gelder stammen, mit denen Matana sein Institut betreibt.


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Deep Blue

31. Januar 2011

••• Warum ausgerechnet Schach? Weil es ein strategisches Spiel ist. Das korrespondiert mit Strategien, wie sie Matana ganz offensichtlich in seinen Gesprächen verfolgt. Und außerdem wird Schach in einer Notation protokolliert, die einem Uneingeweihten nichts sagt. Mein Großvater, von dem ich Schachspielen lernte, konnte blind spielen. Er nahm Block und Stift und setzte sich mit dem Rücken zum Brett. Ich musste meine Züge ansagen. Er notierte sie und verkündete seine Erwiderung. Er hatte das Schachbrett »vor dem inneren Auge«.

Und damit steigen wir nun ein in die Partie zwischen Rosen und Matana…


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Mittelgambit

30. Januar 2011

e2-e4
1. e2-e4 …

Heute, dachte ich, würde ich die Partie verlieren, obgleich Matana, um es mir leichter zu machen, sogar Tage zuvor angekündigt hatte, dass er ein Mittelgambit spielen würde. Ich war schlecht vorbereitet. Matana ist ein Eröffnungsmeister, eine Art wandelnde Eröffnungsdatenbank. Mühelos repetiert er ohne nachzudenken die komplexesten Varianten von Auftaktzügen. Ich hätte mich schlau machen müssen, aber es gab ganze Bücher allein über diese Eröffnung, und über die »Skandinavische Verteidigung mit vertauschten Farben«, bei der Matana nicht einmal einen Bauern würde opfern müssen, um kraftvoll und mit Tempo ins Spiel zu kommen, war ich bei meinen Studien nicht hinausgekommen. Dabei hing bei unseren Partien für mich alles davon ab, mich mit Würde ins Mittelspiel zu retten. In unübersichtlichen Situationen mit vielen strategischen Möglichkeiten konnte ich am ehesten eine Partie für mich entscheiden oder doch wenigstens ins Remis führen. Landeten wir erst einmal in einem figurenarmen Endspiel, war gegen Matana gar nichts mehr auszurichten. Dann führte er mich vor wie einen Anfänger und würzte sich seinen Triumph noch gern mit der Ankündigung: Matt in drei Zügen.

aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)

 

••• Jetzt brauche ich Hilfe von den Schachkundigen unter den Turmseglern. Ich habe einen ambitionierten erzählerischen Plan, dessen Umsetzung sich schwierig gestaltet.


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Assange ist frei

30. Januar 2011

mirror...mirror on the wall • © eize@deviantart.com
mirror…mirror on the wall • © by eize@deviantart.com (2006-2011)

Mir war heiß. Bei allen deutlich spürbaren Anzeichen der Lust war es aber nicht einfach Begehren, das mich überkam angesichts der Szene vor uns. Es war vielmehr eine Welle tiefer Zuneigung zu der Nymphe, die mich hierhergebracht hatte. Das überraschte mich, als sähe unser Verhältnis ein solches Gefühl nicht vor, aber es kümmerte mich auch nicht. Ich schlang meine Arme um Katelyns Taille. Ich schloss die Augen, und wir umarmten einander so fest, als wollten wir uns gegenseitig ineinander verkriechen. Mit den Lippen strich ich über Katelyns Hals und tastete nach der Stelle, an der ich allein mit den Lippen ihren Puls fühlen konnte. Katelyn atmete ruhig und tief. In sachten Wellen drängte ihr Bauch meinem entgegen.

Das war kein Traum. Wir lebten. Wir waren tatsächlich hier.

Ein leiser Marimbaschlag schreckte uns auf. Wir lösten uns voneinander und sahen uns um. Die Staffelei war verschwunden, mitsamt dem Bild im Bild, der Nymphe und ihrem Pan, der aus ihm herausgestiegen war. Wir waren allein vor einem großen Spiegel und sahen uns selbst verloren im Halbdunkel stehen. Wie zwei Kinder, die sich im Wald verlaufen haben, hielten wir uns an den Händen und starrten auf den Vorhang, der sich hinter uns bewegt hatte, als wäre jemand eilig hindurchgeschlüpft.


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Αρκαδία (II)

28. Januar 2011

Arkadien, entzifferte ich.

Katelyn zog mich ungeduldig in Richtung des Vorhangs. Ich war mir nicht einmal sicher, dass die Ausstellung dort weiterging. Katelyn schon. Ohne zu zögern schob sie den schweren Samt beiseite und bugsierte mich in den arkadischen Teil der Hayman-Ausstellung.

Dieser Raum hatte exakt den gleichen Grundriss wie der erste, in dem wir gewesen waren. An den Wänden hingen ebenso viele Bilder im gleichen Großformat und Haymans – das musste ich einräumen – unverwechselbarer Handschrift. Die Gemälde hier aber stellten andere Motive dar als jene im ersten Raum. Alle Frauen, die Hayman auf seinen Amulettgemälden als Engel hatte auftreten lassen, begegneten uns hier wieder, jedoch mit hochgestecktem Haar, rasierten Achseln und blanker Scham. Hayman hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, die so offengelegten Details der Frauenkörper in fotorealistischer Manier widerzugeben. Die Nacken und Achselhöhlen waren spektakulär, und ich gebe ohne Zögern zu, dass ich die erstaunlichen Variationen weiblicher Schöße mit ebenso viel ästhetischer Begeisterung wie Erregung betrachtete.


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Αρκαδία (I)

27. Januar 2011

© Moran Haynal: »Ohne Titel«, Öl auf Leinwand 150cm x 150cm
© Moran Haynal: »Ohne Titel«, Öl auf Leinwand 150cm x 150cm

Die Galerie war eine klandestine Off-Location, uptown, in einer wenig vertrauenerweckenden Nebenstraße. Die Ausstellungsräume befanden sich in einer geräumigen Wohnung im ersten Stock. Vor der Tür stand ein Aufpasser, direkt neben einem handgeschriebenen Hinweisschild: »Adults only«.

Katelyn grinste. Ich hatte ja keine Ahnung, wohin sie mich gelotst hatte. Wir traten ein, und Katelyn hakte sich bei mir unter, zog mich an sich und spitze ihre Lippen in Richtung meines Ohrs.

Das wird dir gefallen, flüsterte sie vergnügt.


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