Sappho I

25. Dezember 2006

Wenn du stirbst ist der tod das ende
•••••keiner fragt dann mehr
nach dir und in niemandes erinnerung
•••••wirst du weiterleben
weil du nie teilhattest an den rosen
•••••Pieriens • im haus
des Hades wirst du nur ein schatten
•••••unter allen anderen sein
in der mitte des windes • im nichts

Sappho, Übertragung: Raoul Schrott
aus: Raoul Schrott: „Die Erfindung der Poesie.
Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“

© dtv 1999

Sappho Büste••• Vor zwei Tagen ging das Chanukkah-Fest zu Ende. Die Juden in aller Welt feierten acht Tage lang den wundersamen Sieg der Makkabäer über die Weltmacht Griechenland. Das Volk des Buches war den Griechen nicht wohl gesonnen. Zu gefährlich schien der Einfluss von Gymnasien, Vielgötterei und libertinen Auffassungen zur Sexualität. Der entweihte Tempel, das Verbot des Torah-Lernens und der Befolgung der überlieferten Gesetze gaben auch allen Anlass zu feindlicher Gesinnung.

Was aber wäre die Dichtung ohne die Griechen? Ohne die grossen Epen und antiken Dramen?

An dieser Stelle darf die Erwähnung der alten Griechen also sicher nicht fehlen. In seinem vielgerühmten Buch „Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“ widmet sich Raoul Schrott denn auch ausführlich der antiken griechischen Dichtung. Wissenschaftlich geht er zu Werke; und oft ist sein Blick für meinen Geschmack gar zu kühl. Zu lernen allerdings gibt es viel; und ich verdanke diesem Buch die Wiederentdeckung einer Dichterin, die ich schon als Jugendlicher gern gelesen habe, wenn auch in wesentlich weniger gelungenen Übertragungen.

Raoul Schrott selbst schreibt dazu:

Es gibt so viele Sapphos wie Herausgeber. Die Entzifferung der Worte, die Ergänzung von Silben, ja von ganzen Sätzen, der Zusammenhang einzelner Zeilen und der Gedichte überhaupt, bleibt wie bei keinem anderen Dichter sonst Vermutung und subjektive Interpretation. Die Übersetzung ist es noch mehr, wie die greifbaren – aber kaum lesbaren – wissenschaftlichen Ausgaben mit ihren Interlinearversionen und den Auslassungszeichen zeigen (…)

Wenn man Sappho entdecken will, empfiehlt sich also ein Blick in dieses Buch. Bei Schrott verbindet sich das Wissen des Sprachwissenschaftlers mit poetischem Können. Das Ergebnis sind nahezu leichtfüssige Übertragungen ohne jeden Stelz.

Insel

24. Dezember 2006

Ich habe nur dich,
Herz meines Stammes.

Traurig stimmt mich die Liebe zu dir,
meine Heimat, wenn dunkle Düfte
dem Abend entströmen, von Orangen
oder Oleandern, heiter,
fließt der Bach
mit Rosen bis fast an die Mündung.

Aber wenn ich zu deinen Ufern wiederkehre
und eine holde Stimme auf furchtsamer Straße
zum Gesang ruft,
weiß ich nicht, ob Kindheit oder Liebe,
Sehnsucht nach anderen Himmeln mich treibt,
und ich verberge mich in den verlorenen Dingen.

Salvatore Quasimodo (1930)
Übertragung: Gianni Selvani

••• Dieses Gedicht ist der Sammlung „Versunkene Oboe“ entnommen. Sie enthält Gedichte aus den Jahren 1930 bis 1932.

Von Quasimodo besass ich immer nur die sehr gute Zusammenstellung des Verlages Volk und Welt, den es leider nicht mehr gibt. Die dort zusammengestellten Übertragungen stammen vor allem von Gianni Selvani. Warum – fragte ich mich nach dem letzten Post zu Quasimodo – hast Du Dir nie weitere Bände von ihm besorgt?

Amazon ist – auch was gebrauchte Bücher angeht – eine Fundgrube. Ich habe nach Quasimodo/Selvani gesucht und bin prompt auf ein ganz besonderes Exemplar gestossen: die limitierte Sonderausgabe „Gesammelte Gedichte“, die 1959 anlässlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises exklusiv für den „Kreis der Nobelpreisfreunde“ herausgebracht wurde. Sie enthält neben der Laudatio (gehalten von Dr. Kjell Strömberg, ehemals Kulturattaché an der schwedischen Botschaft in Paris), der Verleihungsrede (von Anders Österling, ständiger Sekretär der schwedischen Akademie) auch einen Essay von Carlo Bo, damals Rektor an der Universität Urbino, zu Leben und Werk Quasimodos.

Die Gedichte stammen aus den bis dahin erschienenen Sammlungen Quasimodos und wurden für die deutsche Ausgabe dieses Sonderdrucks von Gianni Selvani übersetzt. Es soll nicht verschwiegen werden, dass Selvanis Quasimodo-Übersetzungen bei Piper erschienen, aber nicht mehr erhältlich sind.

Diese Sonderausgabe macht mir jetzt auch besondere Freude. Und neue, starke Gedichte gab es auch zu entdecken. Dies hier ist nur eines von vielen.

Was zählt

23. Dezember 2006

Wie lange willst du noch laufen
an der kurzen Leine der Kindheit,
im Gepäck die wohlgemeinten
Redensarten der Hexen und Trolle:
Gedankenfilz und allerlei Unrat
aus fremden Häusern.

Bahnhöfe gibt es,
die musst du verlassen,
bevor der Wartesaal
in dir Wurzeln schlägt
und der Horizont
sich zum Tunnel verengt.

Wir wissen ja nicht, was wahr ist,
sagst du. Wir können nur sagen,
was zählt.

© Benjamin Stein (2006)

••• Zu den Gedichten, die mich begleiten, gehören auch meine eigenen. Aus diesem Grund und nicht, weil ich mich in eine Reihe stellen will mit den hier zitierten Dichtern, bringe ich heute auch eines von diesen Gedichten. Anlass ist noch einmal Hilbigs „bahnhof“.

h. selbst-portrait von hinten

22. Dezember 2006

die hand im haar so hockt er
ruhlos am tisch
und ahnt nicht daß die herbstnacht
die luft an seinem nacken dunkel färbt
er sitzt auf dem sprung er sagt ich bin
solitair
solitairund müde bin ich mir selbst
entflohn (so hockt er am tisch der fremde
wenn ich allein im zimmer bin

(man sieht nicht sein gesicht
was wartet er gekrümmt zur kralle
harrt er des blauen hauchs der ihn belebte
dem mondeslicht das schwächer in die kalten
haine hängt
haine hängtdie tage gingen schnell
glaubt er davonzufahren auf dem stuhl
längst hält ein herbst mit kaltem haar
sein hastiges gebein verhangen

er schwimmt in hundert jahren schlaf
er ahnt nicht daß er selber herbstet
vergangen ist was er vergaß
(der herbst steht kopf der herbst verhöhnt ihn
er merkt es nicht er merkt nicht daß sein atemhecheln
dem atemlosen fehlt der händeringend
ruhlos durch die haine rennt und der
so oft ihn rief
(verkrallt hockt seine hand im haar
das nicht mehr mit ihm denken will

zum schreien seltsam trüben draußen
die sterne die nacht ein

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
© S. Fischer Verlag (1979)

••• Noch einmal Wolfgang Hilbig. Seine „abwesenheit“ steckt voller intensiver Texte. Doch das „selbst-portrait“ hat einen ganz besonderen Reiz. Man liest es kaum wie einen Text. Man schaut es eher an wie ein Bild, das jedoch erst auf der Imaginationsleinwand an Kontur gewinnt, wenn die Worte ganz in uns eingedrungen sind.

Das ist eine der Grenzberührungen zwischen den Künsten, wie sie mir immer vorschwebt. Wie Celan an die Tür der Musik klopft, tritt Hilbig hier bei der Malerei über die Schwelle.

Bruchstücke einer Kindheit

21. Dezember 2006

Daß ich mitspiele, daß ich eure Regeln zu meinen machen soll, ist nur eine List von euch, mich weich zu kriegen, mich in falscher Sicherheit zu wiegen. Die wahren Regeln, wie man lebt und überlebt, die ich im Lager gelernt hatte, die Jankl mir beibrachte, die werdet ihr mich nicht vergessen machen.

Das gute Leben ist nur eine Falle. Das Lager ist noch da! Es ist nur versteckt und gut getarnt. Die Menschen haben ihre Uniformen ausgezogen und sich schön gekleidet, damit man sie nicht erkenne.

Aber höre genau hin, beobachte sie, wie sie ihre eigenen schönen Spielregeln mißachten. Deute ihnen nur leise einmal an, daß es sein könnte, daß du ein Jud‘ bist und du wirst spüren: Es sind noch immer die gleichen Menschen – und ich bin sicher: Sie können noch immer töten, auch ohne Uniform.

Ich habe als Junge oft Selbstgespräche geführt. Und nun sah ich diesen unbestechlichen Dokumentarfilm über die Befreiung von Mauthausen und anderer Lager.

Wie betäubt ging ich nach Hause, warf meine Schulmappe hin und ging in den Garten.

Wie ich es oft tat, wenn ich ganz alleine etwas überdenken wollte, kletterte ich hoch hinauf auf eine der schönen alten Tannen und setzte mich bequem auf einen selbstgebastelten Hochsitz.

Fast die ganze Stadt konnte ich von hier überblicken. Das sanfte Wiegen des Wipfels beruhigte. Da oben war ich sicher. Keiner würde mir folgen können. Ich konnte nachdenken.

Ich sah wieder die lachenden und erleichterten Gesichter der Befreiten aus dem Dokumentarfilm:

Gesetzt den Fall, der Film hat nicht gelogen, gesetzt den Fall, diese Gesichter haben nicht gelogen, wo war ich dann? Was hat man mir verheimlicht? Warum war ich nicht dabei? Ist da wirklich etwas geschehen, von dem ich nichts wußte?

Ich wurde immer unsicherer und ein schrecklicher Verdacht, gleich einem beißenden Schmerz, begann sich in mir emporzunagen. Er krallte sich in meinen Bauch, legte sich schwer auf meine Brust und kroch würgend in meinen Hals:

Vielleicht ist es wahr – ich habe meine eigene Befreiung verpaßt.

Binjamin Wilkomirski, aus: „Bruchstücke“
Aus einer Kindheit 1939-1948
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag (1995)

••• Kennengelernt habe ich Binjamin Wilkomirski auf der Leipziger Buchmesse 1996. Wir hatten eine gemeinsame Lesung. Unsere Bücher waren beide im Herbst zuvor erschienen. Ich kannte seines noch nicht und er nicht das meine. Vor der Veranstaltung hatten wir Gelegenheit, lange miteinander zu sprechen. Es war offensichtlich, wie weit dieser zerbrechliche Mann von einem seelischen Gleichgewicht entfernt war, dass er voller Ängste und Nöte steckte. Er war auch nicht in der Lage, selbst zu lesen, sondern liess vorlesen und verfolgte die Veranstaltung mit ängstlicher Unruhe und einer Unsicherheit, die in seiner Körpersprache nahezu unerträglich sichtbar wurde.


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