27. Januar 2007Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
Auf lange Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.
An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.
Alfred Lichtenstein (1889-1914)
••• An den Kyrill-Tagen kamen hier ja zwei (Vor)-Expressionisten zu ihrem Recht. Dabei bin ich auf eine Perle von Alfred Lichtenstein gestossen, die ich den Turmseglern nicht vorenthalten wollte.
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26. Januar 2007
Ich habe Zeit,
einen Baum
zu betrachten,
sein Geheimnis
zu ergründen –
warum er standhielt
den Stürmen.
Dies ist die Antwort
des Baums:
Wachsen zu gleicher Zeit
in die Höhe
und in die Tiefe.
Ulrich Grasnick, aus: „Der vieltürige Tag“
Verlag der Nation Berlin 1973
© Ulrich Grasnick 1992
••• Ich erinnere mich noch heute, wie Uli dieses Gedicht zum ersten Mal (für mich) in seinem Zirkel rezitierte: mit blitzenden Augen. Bilde ich es mir nur ein oder kam dieses Zitat immer grad dann, wenn einer von uns wieder einmal ganz besonders wortgewandt hatte sein wollen?
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25. Januar 2007
Wind fährt herab,
wir sehen den Staub
nicht im Dunkel –
Wir finden
ein verlassenes Feuer,
darin noch schwelt
die vergangene Stunde –
Wir kaufen
Erinnerungen ein
in einem fremden Land,
wir suchen Glück zu entdecken,
und doch kehren wir nur zurück
mit den Feuern,
die in uns sich bergen.
Ulrich Grasnick, aus: „Der vieltürige Tag“
Verlag der Nation Berlin 1973
© Ulrich Grasnick 1992
••• Nicht von ungefähr haben Ulrich und Charlotte Grasnick sich mehrfach gemeinsam auf den dichterischen Weg gemacht. Immer wieder sind ihre Gedichte auch Gespräch untereinander. Natürlich darf Ulrich Grasnick hier nicht unerwähnt bleiben.
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24. Januar 2007Mein Bruder im äußersten Schwung am blauen Anschlag der Himmel Land ohne Eile als wären die Augen verbunden ein Tasten danach mit einem bestimmten Gefühl für Tonhöhe beginnen ohne den Ton vorzugeben ich muß laut zählen den Takt halten im vierhändigen Erinnern o was jetzt da ist und alles noch einmal von vorn das Bilderbuch aufschlagen der Stern so tief eingesunken im Schnee daß er erlosch ich suche die Stelle sein Leuchten zwischen den Seiten mein Bruder ich möchte hoch hinausfliegen Propellerschleife im Haar der Tag mit meinem Mund öffnet die Lippen spielt mit schillernden Seifenblasen die Luftlinie schwirrt in der Farbe des Balls weit über den Zaun Kindheit ein Spielzeug auf Rädern dich ziehe ich hinter mir her das Wachsen an der Hand der Mutter das Wachsen an der Hand der Großmutter ihr ruhiges Miteinander die Zeit ohne Männer im Dorf Mutter mit wundgescheuerten Füßen am Abend ihr Überlandgehen nach Kartoffeln und Mehl Großmutters Stimme Wenn er blutet ist er nicht giftig schneidet den Blutreizker auf im Keller das eingesperrte Lachen Ballons mit Obstwein ängstlich gemieden die Distel bringt Trauer ins Haus einmal von Furcht geschüttelt ich liege in einem Sarg bin nicht tot meine Mutter trägt mich auf dem Rücken zurück in die Stube seitdem brennt die Lampe im Nebenzimmer der Türspalt durch den das Licht fällt immer nur zu Besuch mein Vater heimlich bewundre ich ihn einst hat er mir im Spielzimmer des Himmels den Großen Bären gezeigt meine Zöpfe werden länger ich wachse ein erstes Nachdenken was ist schön
Charlotte Grasnick, aus: „Blutreizker“
Verlag der Nation Berlin 1989
© Charlotte Grasnick 1992
••• Einen, der unerschütterlich von sich überzeugt war, haben wir vor kurzem erwähnt. Charlotte – und ich selbst übrigens auch – zählen eher zu den Zweiflern. So schrieb sie mir auch sehr treffend als Widmung in ihren ersten eigenen Lyrikband „Blutreizker“ folgende Strophe aus einem anderen ihrer Gedichte…
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23. Januar 2007
Am dunkelsten
in der Mitte
– wie dein Auge –
heller am Rand
vom weißen Porzellan –
bis zum Grund
kann ich nicht blicken.
Alles kühlt ab
langsam
von außen nach innen.
Manche wärmen ihn auf –
mir aber ist das
wie schon einmal gestorben.
Charlotte Grasnick, aus: „Flugfeld für Träume“
Verlag der Nation Berlin 1984
© Charlotte Grasnick 1992
••• Von den literarischen Zirkeln im Hause der Grasnicks habe ich schon berichtet. Mit Charlotte hat mich später noch etwas Besonderes verbunden. Anfang der 90er Jahre habe ich viele Stunden mit ihr über ihren Texten verbracht. Sie kam zu mir mit vielen Blättern und Zetteln, handschriftlichen Notizen. Sie wollte sie ordnen. Ich tippte sie in den Computer. Oft gingen die Texte durch den Filter langer Gespräche; doch dabei ging es eigentlich nur um feine Schliffe hier und da. Ich glaube allerdings, sie hat nicht wirklich gesehen, wie stark ihre Texte waren.
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