Gitanjali

12. April 2007

Mein Lied hat allen Zierat abgelegt.
Es ist nicht stolz auf Kleid und Putz.
Schmuckstücke würden unsere Einheit stören
Und zwischen Dich und mich sich drängen.
Es könnte leicht in ihrem Klirren
Dein Flüstern untergehen.

In Scham stirbt meine Dichtereitelkeit
Vor Deinem Blick dahin.
Ich saß zu Deinen Füßen, großer Meister,
Gewähre mir das Eine: Einfach und gerade leben,
Wie die Schilfrohrflöte wartet, sich für Dich
Mit Tönen zu erfüllen.

Rabindranath Tagore, aus: „Gitanjali“

Mein Lied berührt nur mit den Spitzen
Seiner ausgestreckten Flügel Deine Füße…

••• Hat es mit dem gerade vergangenen Pessach-Fest zu tun? Mit der Tatsache, dass an dieser Stelle schon des öfteren von Gott die Rede war? Womit auch immer: In den letzten Tagen häufen sich Gespräche über das Thema Gott und Religiosität in modernen Zeiten. So erreichte mich eine sehr freundliche Mail eines Autoren-Kollegen, der seine Sprachlosigkeit bedauert, wenn sein Denken um dieses Thema kreist. Auch mit Michael Perkampus entspann sich das Gespräch um Religiöses. Und heute früh führte mein Wunsch, ein Buch von meinem Busenfreund auszuleihen („The Blind Watchmaker“) zu einer hitzigen Diskussion um den müssigen Grabenkampf zwischen Kreationisten und Atheisten.

Wie es der Zufall will – den es ja womöglich nicht gibt – fiel mir vor zwei Tagen ein Gedichtband in die Hände, den ich viel zu lange nicht durchblättert habe: Das „Gitanjali“, Tagores „Liederbuch zum Lobe Gottes“ (so die wörtliche Übersetzung des Titels).

Tagore ist alles andere als wortlos. Und was mir besonders nahe geht an diesen Gedichten, ist die Betonung einer gewissen Demut, die es nicht nur braucht, um „a Mensch zu seijn“ – wie es das Jiddische ausdrückt – sondern die auch, wie ich meine, eine notwendige Zutat für grosse Dichtung ist.

Heute bin ich dankbar

12. April 2007

••• Heute bin ich dankbar: für eine wundervolle Begegnung, für ein langes, intensives Gespräch. Und Spitzbüberei haben wir auch noch getrieben. Mehr davon demnächst im Podcast von Herrn p.-

Ein Genie

11. April 2007

Charles Bukowski

Heute hab ich im Zug einen
genialen Jungen
kennengelernt.
Er war ungefähr 6 Jahre alt,
saß direkt neben mir,
und als der Zug an der Küste
entlangfuhr
sah man das Meer
und wir schauten beide aus dem
Fenster
und sahen das Meer an
und dann drehte er sich
zu mir um
und sagte,
„Das is nich schön.“

Da ging mir das zum
ersten Mal
auf.

Charles Bukowski

••• Gefunden hat dieses Gedicht meine Frau… Das Original ist bei ihr nachzulesen.

Wiedergeboren als Bleistift

8. April 2007

Carbon Copy Pencil from Human Cremains

••• Wie wäre das: Wiedergeboren als Mine eines Bleistifts? Und wenn schon keine Wiedergeburt, so doch ein Hinauszögern des eigenen Nutzloswerdens. – Aus der Asche eines Verstorbenen lassen sich bis zu 240 Bleistiftminen herstellen. Erdacht wurde dieser Service von fragwürdigem Geschmack von Nadine Jarvis, ihrerseits preisgekrönte Produktdesignerin.

I have been designing urns that lengthen death ceremony to give more time to come to terms with loss. My motivation for this project was my interest in the death and decomposition of materials and how the degradation of materials could be used to aid the grieving process.

Nein, ich habe definitiv nicht vor, mich dereinst als Bündel Bleistifte wiederverwerten zu lassen. Aber nun: Das ist doch mal ein Sujet für die magischen Autoren. Was für Geschichten wären das, die mit einem solchen Stift geschrieben würden? Schriebe er selbst, wäre der Verstorbene ein Autor gewesen? Spräche er mit dem Schreiber, offen oder durch Zeichen und Andeutungen? Würde ein solcher Stift sich verweigern, wollte man nur einen Einkaufszettel mit ihm schreiben, weil er sich nicht verschwenden wollte auf schnöde utilitaristische Dinge? Es darf spekuliert werden…

Ich bin der Dieb unter euch

8. April 2007

Cello by lostshadow1@deviantart.com

Lange habe ich geglaubt, was immer sie spielte, wären nur Variationen über einen Ton aus dem Mikrokosmos. Davon hatte ich selbst viel in mir. Aber ich konnte nicht spielen. Die Musik fängt erst hinter den Sternen an, davor ist nur Klingeln. Wenn sie mir etwas erzählte, war ich stumm.

So ist es immer geblieben. Ich kann nur hören und sehen und nach einer Hand greifen. Meine Geschichten von Sternen gehören anderen. Ich selbst habe nichts. Ich bin der Dieb unter euch und stehle mit Augen und Ohren, jeden Ton, jede Geste und am Ende das Herz.

••• Gestern begann das zweite Kapitel vom „Anderen Blau“. Die Exposition ist abgeschlossen. Im zweiten Kapitel tritt eine neue Stimme hinzu, eine andere verstummt. Geplänkelt wird nicht mehr. So viel sei verraten.

Sergej Rachmaninov: Cello Sonate, op. 19 (2. Satz)