Timber

4. Juni 2007

Gelehrt haben mich Feen eine Sprache des Mooses
Gesprochen wird sie liegend im Farn
So klingen märchenhafte Vibrationen
Noch lange nach und stimulieren die verkümmerte Sicht
Der Menschensöhne

Tot fand sich sie am Waldesrand
Ein Sommerspiel auf ihren Lippen
Sie wär’ die Liebste mir gewesen
Ein Elfenkind mit scheuem Blick

Ich frage den Bach nach ihrem Namen:

Siehst du nun das Unheil an?
Der Traum hat sich dir eingemischt
Und offenbart dir unvereint
Wie er das Leben schmähen wird

Wie sie dort liegt
Bedeckt sie nur der Sonnenstaub

Bedeckt sie nur ein Trauerblick

Bedeckt sie nicht mein Antlitz
Kannst du mir sagen, wer sie war?

Sie war und ist ein Traumgespinst
Ihr Name ist ein Stachelband
Weil sie dir angetan
Du träumst den Tag, du lebst die Nacht
Sie bietet dir ihr Leben bar

Wie sollte ich es nehmen?

Sie starb in deiner Welt weil du erwacht bist
Stirb du in ihrer, schlafe ein

© Michael Perkampus (2007)
aus dem Zyklus: „Timber“

••• Im Beitrag von gestern kamen die Zyklen „Timber“ und „Die Glyphen von L’abyr“ bereits zur Sprache. Märchenhaft geht es hier zu. Der Leser wird in eine Feenwelt entführt. Und ganz anders als noch in den Gedichten von „Ouroboros Stratum“ tritt hier ein viel sanfterer, lyrischerer Autor zutage. In diese Gedichte muss man sich einfach hineinfallen lassen; sie tragen einen fort von Gedicht zu Gedicht, von Station zu Station der Traumreise.

„Timber“ und die „Glyphen“ hat Perkampus als Tonwerk herausgebracht. Einige – glücklicherweise aufeinander folgende – Gedichte sind auch in seinem Podcast gesendet worden. Leider sind beide Zyklen noch nicht am Stück gedruckt oder per Weblog nachzulesen.

„Ouroboros Stratum“, „Timber“ und die „Glyphen von L’abyr“ (letzteres für mein Verständnis nichts anderes als der 2. Teil des Timber-Zyklus) – wäre ich Verleger, das wäre ein Band, den ich machen würde.

Michael Perkampus liest: Timber 1. Timber

Lillebrök

3. Juni 2007

(Die Phantasiererin mit dem geisteskranken Shawl oder:
brache Wasser, stille Spucke)

Mittentaucher, Ring nach draußen
Poröse Jagd, die Oskorei
verfliedert sich bei plumpen Affen
bald ist wieder Dunkelheit

Grabgabel, Nebelung

Lautlose Zauberplakate
Manchmal umfaßt uns der Wind
Traumfabriken stehen im Sumpfland

Metastasenwände bröckeln unter den Füssen der Erbauer
Im Zementloch tanzen Ratten ihre halben Leiber fort
Können Könige viel König sein und Töchter Fotzezeigen
Können Klone nicht mehr eigen sein und Spucke rinnt dahin
Durch die Schleusen einer Zeit, die niemals war und nie vergeht
weil die Fessel der Gedanken nicht zerreißt

Der Gesichtsausdruck wird ganz gußeisern
am Schafott

Wir hören die Stimme Lillebröks:

– Ich habe getanzt und ganz nackicht hab’ ich getanzt
auf dem Dach hab’ ich getanzt
und die Welt war überhaupt ganz klein
hab’ ich getanzt und nur noch seltene Worte hab ich getanzt
und alle riefen:

Wir hören, was alle riefen:

– Lillebrök
Lillebrök
Komm runter runter Lillebrök
und laß dich in eine Decke aus Pferd hüllen
Du bist ganz weiß wie Deine Haut
lebrök

– Ja, bin ich!

Brache Wasser
Dämonen See
Siehst du?

Ebene eins

Die erste Ebene ist ja nun mal dunkel, Ebene eins
Die erst-

Ebene zwei

Wir müssen fortschreiten, ganz hinauf
und dann hinunter blicken, ganz hinab

Irrsinnsrüpel
Irrsinnsrüpel

den Gang hinaus –
nicht die Tür ins Vergessen schließen
nicht Gedanken hinabspülen
solange das Leben noch am Bahnhof steht
nicht das Licht ansehen
nicht die Dunkelheit aus dem Fenster werfen
keine Füllworte überlegen

Jetzt! Ficken! (Wie es geht entnehmen sie dem beiliegenden Pornobegleitheft)
Eins und zwei (Bitte überprüfen Sie zunächst, ob alle Teile mitgeliefert wurden)
und Klitoris reiben (vorher befeuchten sie die Schellackrillen ihrer Finger)
und drei und vier
(unterscheiden Sie zwischen keuchen und schreien, gurren und stöhnen)
die Eichel massieren sie am Spalt (achten sie auf den Blick)
und fünf und sechs
gefällt es dir denn auch
und sieben und acht (wir wünschen Ihnen in jedem Fall Erfolg)

In der Schule

– Lillebrök, nimm den Shawl ab, s ist Sommer!
– Sommer ist es nicht und war es nie!
– Lillebrök! Tu’ was ich dir sage!
– Ich tu’ es nein und tu’ es nein und tu’ es nicht und tu’ es nie!
– Lillebrök! Dann mußt du zum GERÄT!

– Ich habe getanzt und ganz nackicht hab’ ich getanzt
auf dem Dach hab’ ich getanzt
und die Welt war überhaupt ganz klein
hab’ ich getanzt und nur noch seltene Worte hab’ ich getanzt

Und Lillebrök wurde zum GERÄT geschleift

© Michael Perkampus (2007)
aus dem Zyklus: „Ouroboros Stratum“


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an einen ungenannten

3. Juni 2007

ich höre daß du in diesem jahr wieder
zwischen diesen hügeln unter diesem eisernen licht
dahingingst
dahingingstwie rimbaud mit einer frau in diesem sommer
der den unsern schon so fern ist daß du nicht die namen
verstehen könntest die ich den hügeln gebe wenn
ich versuche mich zu erinnern

über das gras ist der stein gekommen
zu scharfe regen über die bäume
und ein roter rauch in dem das licht sich ändert
wie um sie umzudeuten die namen
an denen man sich in einem exil besäuft

name die der immer gleiche finger
auf einem papier verreibt das sind die dokumente
dieser zeit
dieser zeit– hoffen wir es bliebe in der atemluft
ein geruch nach verbranntem –

© Wolfgang Hilbig (31. 08. 1941 – 02. 06. 2007)

••• Wolfgang Hilbig ist tot. Er starb gestern in Berlin. Zu früh. So ist das immer. Es ist nicht leicht zu erklären: Für mich ist mit ihm ein Stück meiner ohnehin verlorenen Heimat gestorben, des kleinen Landes, aus dem ich komme, nach dem ich mich keine Sekunde zurücksehne, das aber doch Heimat war. Wie Hilbigs Gedichte.

Gastbeiträge willkommen!

1. Juni 2007

••• Nein, mir geht noch lange nicht der Stoff aus. Aber das Turmsegler-Motto lautet ja „Erinnern & Entdecken“. Und die beste Quelle für Entdeckungen in der Literatur sind andere Leser (oder auch Autoren, die zunächst ja immer auch Leser sind). Daher möchte ich die Reihe der Gastbeiträge, die von Michael Perkampus und Markus A. Hediger hier eröffnet wurde, sehr gern fortführen.

Was genau aber wird gesucht?


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Ignaz

1. Juni 2007

Nach Iswaly mußte er im Waggon eines Güterzuges fahren, zusammen mit Schweinen, die auf ihren dicken, fetten Hintern saßen und grunzten. Die Schweine wurden als Zuchttiere zu einem reichen Gutsbesitzer geschickt; ein Gärtner des Gutsherrn begleitete den Transport. Es war ein sauberer, stiller Mann, der früher im Haus bedienstet gewesen war. Außer ihm, Ignaz und den Schweinen reiste noch ein Jude in dem Güterwagen, ein Mann mit großem Kopf, krausem, ergrautem Haar und Bart, mit einer Brille, einen steifen Hut auf dem Kopf; sein fußlanger Mantel war an manchen Stellen noch dunkelblau, aber an vielen Stellen bereits abgeschabt und hellblau; die Taschen saßen ganz tief. Er schwieg die ganze Zeit, war nachdenklich, ernst, trank Tee und summte irgendeine Melodie. Der Gärtner schlummerte. Die Schweine saßen in dem Holzverschlag, mit grauen Wolldecken zugedeckt, auf denen gestickte Initialen und Kronen prangten. Es dämmerte, der Wind trug Schnee durch die offene Tür herein und zerrte an dem feuchten Stroh unter den Schweinen. Die Felder schimmerten in trübem Weiß, die dunklen Sträucher fingen den Rauch aus der Lokomotive auf. Ignaz wurde von einer tiefen, unerklärlichen Schwermut gequält. Mit gerunzelten Brauen, die Zähne fest zusammengebissen, stand er an der Tür, knackte Sonnenblumensamen und schielte zu dem Juden hinüber. Der Jude saß auf einer umgestürzten Kiste und hielt in seiner großen, mit violetten Adern bedeckten Hand eine Tasse Tee. Die Schalen der Sonneblumenkerne flogen mit dem Wind, eine Schale fiel in die Teetasse. Der Jude blickte lange und erregt durch seine Brille auf Ignaz. Ignaz wartete ab, was der Jude sagen würde, um ihm bei seinen ersten Worten mit dem Stiefel in die Brust zu stoßen. Aber der Jude sagte nichts: er erhob sich nur und goß den Tee absichtlich ganz dicht neben Ignaz‘ Füßen aus, neben seinen breiten, flachen Militärstiefel.

Ivan Bunin, aus der Erzählung „Ignaz“

••• Eine Probe der Buninschen Prosa wollte ich nach dem vorletzten Beitrag doch nicht schuldig bleiben.


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