Gottfried Benn spricht Gottfried Benn

1. August 2007

Gottfried Benn: Tonwerk••• Ich war völlig perplex. Wenn ich Fotos von Benn sehe, wenn ich seine Gedichte lese, stelle ich mir eine sonore, eher tiefe Stimme vor. Und nun stolpere ich über diesen Fund und kann die Stimme des echten Benn kaum zusammenbringen mit meiner lange gehegten Vorstellung.

Da wird man wohl wieder ein wenig Geld anlegen müssen. Benn spricht Benn: Das Hörwerk 1928-1956. Über 11 Stunden auf MP3-CD. Die neue, erweiterte Ausgabe, der ein Tonmitschnitt von Benns einzigem TV-Interview hinzugefügt wurde, ist in Leineneinband im Schuber bei 2001 erhältlich.

An unten angefügter Hörprobe kann man leicht erkennen, dass es heute um die Literatur nicht schlechter oder besser steht als zu Benns Lebzeiten. Schön, mit welchem Gleichmut er das beschreibt.

Hörprobe: Benn spricht Benn

Toke und Ingmar

31. Juli 2007

Ingmar Bergman (1957)
Ingmar Bergman: 14. Juli 1918 – 30. Juli 2007

••• Grad am Sonntag fühlte ich mich durch die Figur des Pfarrers in Toke Constantin Hebbelns Film „Nimmermeer“ so stark erinnert an Ingmar Bergman. „Fanny und Alexander“ ist nur einer seiner Filme, die mich stark bewegt und auch geprägt haben. Ingmar Bergman ist tot. Er starb gestern auf Fårö. Noch eine Lücke.

Mehr dazu u. a. »» hier.

Pensionierung des freien Willens

31. Juli 2007

Neuroimaging
„Sample of 3D Neuroimaging“ – © York Neuroimaging Centre

Reemtsma:
[…] Deshalb sind Sie für Ihre Persönlichkeit und Ihr Handeln verantwortlich – wer sonst? Der Mensch ist keine willenlose Wachstafel, in der die Umwelt ihre Gravuren hinterlässt.

Markowitsch:
Warum bin ich denn keine Wachstafel? Alles, was je auf mich eingewirkt hat, ist in mein Gehirn eingegraben. Unser Handeln ist durch die Verschaltungen in unserem Gehirn determiniert. Viele davon sind stabil. Andere verändern sich ständig im Wechselspiel mit der Umwelt, mit dem Werden und Vergehen von Neuronen und der Ausschüttung von Neurotransmittern. Das gibt uns das Gefühl, wir handelten aus freier Entscheidung, Tatsächlich spielt sich unsere Gehirntätigkeit in grossen Zügen unbewusst ab, gesteuert durch das emotionale Erfahrungsgedächtnis. Der freie Wille ist eine Illusion.

Reemtsma:
Das ist doch Unfug! Herr Markowitsch, Sie reden, als gäbe es einen Unterschied zwischen Ihnen und Ihren Neuronen. Es scheint, manche Neurobiologen haben ein interessant distanziertes Verhältnis zu ihrem eigenen Gehirn.

„Neuronen sind nicht böse“, Spiegel Nr. 31/2007 S. 117 ff.

••• Der gestern erwähnte Spiegelartikel hat es wirklich in sich. Berichtet wird über neuere Erkenntnisse der Neurobiologie.

So etwas wie das Grundprogramm eines moralischen und ethischen Empfindens sei in bestimmten Hirnregionen vorgeprägt. Wir kämen bereits damit auf die Welt; und was wir moralisches Bewusstsein nennen, erfahre durch Erziehung nur bestimmte kulturelle Ausformungen. Basis allerdings sei das evolutionär vorgeprägte Neuronengeflecht in den identifizierten Hirnregionen. Sei es nicht vorhanden, beschädigt oder in seiner Funktion eingeschränkt, etwa durch Unfälle, Tumore oder neurobiologische Fehlentwicklungen, fehlen die für moralisches Handeln – Ergebnis einer Abwägung zwischen Ratio und empathischem Empfinden – notwendigen Voraussetzungen.

Der Schluss liegt nun nahe, dass Verbrechen neurobiologisch determiniert sein könnte. Dass es mit dem freien Willen nicht weit her sei. Dass es so etwas wie Schuld nicht gäbe. Dass Justiz und Strafsystem ersetzt werden müssten durch neurobiologische Diagnostik und (Um-)erziehung der Täter.


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Auge um Auge

30. Juli 2007

••• Eine Unwahrheit ein ums andere Mal zu wiederholen, macht sie deswegen nicht wahr. Wiederholung allerdings eignet sich gut, um Unwahrheiten so gründlich in die Gehirne zu waschen, dass sie wie selbstverständlich ins Allgemeinverständnis eingehen. Und das trifft nicht nur auf die „vox populi“ zu – nein, die vermeintliche Intelligenzija ist ebenso betroffen.

In einem übrigens hochspannenden Artikel im aktuellen „Spiegel“, über den ich gern noch berichten will, kann man einen guten Beleg für diese These finden. Das liest sich so:

Auge um Auge – im biblischen Israel galt Rache als absolut legitim. Bis weit ins Mittelalter herrschten in Europa Faustrecht und Fehde. Erst 1495 beim Reichstag zu Worms gelang es im Heiligen Römischen Reich, die Rache per Privatkrieg im ganzen Reich zumindest auf dem Papier abzuschaffen […]

„Die Grammatik des Guten“, Spiegel Nr. 31/2007 S. 113

Dass das Buch Vayikra (Leviticus) 24,17-22 die grausame, rächende Körperstrafe als Sühne für Körperschäden befehle, ist so oft wiederholt worden, dass es selbst in einem wissenschaftlichen Beitrag des Jahres 2007 dem Autor wie geschmiert von der Feder geht. De facto aber fordert die Torah eben gerade nicht die Versehrung des Täters, sondern die Entschädigung des Opfers durch Geld.


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Kontrastreiches Verblassen

30. Juli 2007

dépérir à gris
we fade to grey
we fade to grey

Sven K. in: „daily ivy“

••• Diese Zeilen – gesummt von Sven K. nebenan bei „daily ivy“ – gehen mir heute nicht aus dem Kopf. „Wishing that life wouldn’t be so dull…“ Das war nie und ist nicht meine Sorge. Doch dieses Gefühl, ins Grau abzugleiten, Kontur zu verlieren und zu verblassen, dieses Gefühl ist mir sehr vertraut.

Der Sohn einer Freundin hat unsere Familie gemalt. Für mich hat er viel Schwarz verbraucht. „I’m fading to black…“, ging es mir durch den Kopf. Sollte das, fragte ich mich heute morgen in einem unbeobachteten Moment, ein Versuch sein, bloss nicht ins Grau hinüber zu siechen? Lebensentscheidungen nach dem Motto: Varianten des kontrastreichen Verblassens…

Sich so zu hinterfragen, ist irritierend.

PS: Irritation ist eine wichtige Zutat des Literarischen. Drum ab „Auf die Rolle“ mit „daily ivy“.