Wo du auch hingehst

6. September 2007

Windrose - © by *edelherb@deviantart.com

Windrose – © by *edelherb@deviantart.com

Wo du auch hingehst
mit deinen träumenden Füszen
sorgsam hingesetzt in dein gegenwärtiges Leben
seltsam beflügelt jedoch wie Merkurs Fersen
in einer ahnungsvollen Erwartung:

immer wieder werden sich riesige Blöcke von Luft
wie fügsame Herden bewegen lassen durch dich
und auf mich zukommen
alle Regen die je deine Wange treffen werden
kommen zu mir zurück
aufgelöst bist du in jedes Teilchen der Erde
mitgeteilt hast du dich allen schwebenden Wolken
und die Wälder der Blumen sprechen in deiner Sprache

nichts kann dich mehr trennen von meinem Herzen
mit jedem Sonnenstrahl sinkst du in mich
wie ein Same

über alle Wasser hinweg

bis zu den blätternden Sternen der Windrose

© Friederike Mayröcker

••• Ich bin mitunter ein undankbarer Leser, nicht sehr geduldig, leicht zu enttäuschen. Das trifft besonders auf die Lyrik-Lektüre zu. Wenn ich einen Band „Gesammelte Gedichte“ vor mir habe, fange ich vorn an und lese Seite für Seite. Und wenn mich nicht recht bald eines der Gedichte wirklich entzündet, kann es leicht sein, dass ich nicht sehr weit komme. Nicht immer gibt es einen zweiten Versuch.


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meine mutter

5. September 2007

Else Lasker-Schüler

War sie der große Engel,
Der neben mir ging?

Oder liegt meine Mutter begraben
Unter dem Himmel von Rauch –
Nie blüht es blau über ihrem Tode.

Wenn meine Augen doch hell schienen
Und ihr Licht brächten.

Wäre mein Lächeln nicht versunken im Antlitz,
Ich würde es über ihr Grab hängen.

Aber ich weiß einen Stern,
Auf dem immer Tag ist;
Den will ich über ihre Erde tragen.

Ich werde jetzt immer ganz allein sein
Wie der große Engel,
Der neben mir ging.

Else Lasker-Schüler aus: „Meine Wunder“
Verlag der Weißen Bücher, Leipzig (1914)

„Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam, im Rheinland. Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich.“

••• Nach den verstörenden Träumen von gestern heute ein verstörendes Engelsgedicht vom „Prinz Jussuf von Theben“, jener Dichterin, die mit beiden Bein fest in ihren Träumen stand.

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4. September 2007

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Ich sah im Traum dich auf der Totenbahre

4. September 2007

Altar of Dis-Ease - © by ~ray00@deviantart.com (2003-2007)

Altar of Dis-Ease – © by ~ray00@deviantart.com (2003-2007)

Ich sah im Traum dich auf der Totenbahre.
Das Zimmer, wo du lagst, war blau erhellt.
Ich trat zu dir heran wie zum Altare,
auf den das Herz das letzte Opfer stellt.

Da lagst du streng und starr. Um deine Haare
bog sich der Schmetterling des Abendrots.
Ich streute blindlings meine jungen Jahre
wie Rosenblätter über deinen Tod.

Die Welt lag wesenlos um deine Hülle,
wie ein gedehnter Schatten um das Licht,
bis alles hinschwand. – Nur dein Angesicht

hing weiß wie eine Wolke in der Stille.
Dann schlug mein Leben beide Augen zu.
Kein Raum war, und kein Ich, kein Du. Nur Ruh.

Rose Ausländer
aus: „Der Regenbogen“ (Sonette), XI

••• An manche Träume erinnert man sich sehr lebendig noch nach Jahren. In gleich zwei solchen Träumen, die mich so aufgewühlt haben, dass ich sie wahrscheinlich nie vergessen werde, bin ich zum Mörder an geliebten Menschen geworden.


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Wie viele Schalen…

3. September 2007

Masks - © ~Stillight@deviantart.com

Masks – © ~Stillight@deviantart.com

Wie viele Schalen, Lieb, wie viele Schichten
umgeben deinen letzten Herzenskern?
Ich schau‘ dich an, doch deine Augen flüchten
und bleiben unerreichbar wie ein Stern.

Ich kann nicht mehr – ich will dein Bild vernichten
und nicht mehr wissen, daß du warst und bist?
O, komm mir nicht mit tausenden Gesichten!
Ich weiß, daß keines deine Seele ist.

Hinweg, hinweg? Erinnerungen binden
mein hörig Herz an deinen harten Schritt.
Ich geh‘ mit dir und kann dich doch nicht finden.

Ich folge dir auf Pfaden gleich Spiralen,
und zähle nicht die Qualen, die ich litt,
da ich den Kern nicht fand, nur Schalen, Schalen.

Rose Ausländer
aus: „Der Regenbogen“ (Sonette), X

••• Diese Ohnmacht, jemandem gegenüber zu stehen, den man liebt und zu wissen: was gesehen wird von diesem anderen, hat mit einem selbst kaum etwas zu tun. Auf der Projektionsleinwand verzerrte Spukgestalten, von Vermutungen entstellt, fremd, so weit entfernt vom Ich, das da angesehen wird. Und das Erschreckendste dabei: Mitunter ist man es selbst, der sich so gegenübersteht und doch nichts erkennt. „… nur Schalen, Schalen.“