Erinnerung an die Marie A.
7. Dezember 20061
An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.
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Seit jenem Tag sind viele, viele Monde
Geschwommen still hinunter und vorbei.
Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen
Und fragst du mich, was mit der Liebe sei?
So sag ich dir: ich kann mich nicht erinnern
Und doch, gewiß, ich weiß schon, was du meinst.
Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer
Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst.
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Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen
Wenn nicht die Wolke dagewesen wär
Die weiß ich noch und werd ich immer wissen
Sie war sehr weiß und kam von oben her.
Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer
Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind
Doch jene Wolke blühte nur Minuten
Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind.
Bertolt Brecht
(21.II.20, abends 7h im Zug nach Berlin)
••• Die „Erinnerung an die Marie A.“ las ich zum ersten Mal mit 13. Die Entdeckung – dieses Gedichts und des Dichters Brecht allgemein – verdanke ich einer Lehrerin. Sie lieh mir ein in bordeauxfarbenes Leinen gebundenes Exemplar der von Werner Hecht besorgten Ausgabe der „Gedichte über die Liebe“. Der Band versammelt Gedichte des Schülers wie des berühmten Dichters und Theraterleiters Brecht, aus allen Phasen seines Lebens. Da gibt es Poetisches, Vitales und Derbes.
Vom „Hinternschwenken“ hatte ich zu diesem Zeitpunkt nur allzu vage Vorstellungen. Aber ich war – mit ständig wechselndem Gegenstand des Interesses – nahezu ununterbrochen verliebt. Oder interessiert? Ich war verliebt ins Verliebtsein, ich studierte, genoss es und zelebrierte. Da kam mir diese Sammlung grad recht. Als „Liebhaber“ in Wartestellung habe ich nicht viel gelernt. Um es mit Brecht selbst zu sagen:
Sagte mir einst eine Frau beim Beginne:
Was sie beim Künstler so wenig verschmerzen
Sei, daß er immer die Frau über seiner Liebe vergesse.
Weihrauch bringt ihr uns und – Kerzen.
Und wir erregen statt eurer Sinne –
Nur Interesse.
In diesen Gedichten – fernab der Lehrstücke und politischen Hymnen – ist Brecht mir am liebsten. Ich schätze die Frische im Ausdruck und die Vielfalt der Formen. Um sie zu zeigen, will ich in den nächsten Tagen noch zwei weitere Gedichte aus diesem Band der Marie A. zur Seite stellen. Geschrieben zwischen 1920 und 1922, variieren sie das gleiche Thema, jedoch in ganz eigenen Formen.