Einsamkeit

28. Dezember 2006

Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen…

Rainer-Maria Rilke (21. 9. 1902, Paris)
aus: „Die Gedichte“, Insel Verlag 1998

Pusteblumenbrunnen in der Dresdner Prager Strasse••• Wie wir vom Klappentext der „Gilgamesh“-Neuübertragung erfahren haben, war das Epos auch für Rilke eine grosse Inspiration. Da der Name gefallen ist, hier ein weiteres meiner Lieblingsgedichte.

Diese Entdeckung verdanke ich einer Bildhauerin: Leonie Wirth. Die Wasserspiele in der Fussgängerzone der Dresdner Innenstadt wurden von ihr entworfen. Sie schrieb mir – ich glaube um 1987 – einen Leserbrief auf eine Gedichtveröffentlichung in einer Zeitung. Es entspann sich ein kurzer Briefwechsel um bildende Kunst und Literatur. Damals schrieb man noch Briefe. Ich habe sie auch besucht in ihrem Haus bei Dresden, ein Haus voller Katzen und grossen Plastiken aus Glas und Stahl. Man konnte kaum glauben, wie diese zarte Person die gewaltigen Materialien überhaupt bewegen konnte.

Sie lebte sehr zurückgezogen. Ihr Haupt-Engagement – nach meinem Eindruck noch weit vor der Bildhauerei – galt dem Tierschutz. Das Gedicht schickte sie mir nach meinem Besuch. Danach habe ich nichts mehr von ihr gehört. Sie müsste jetzt um die 70 sein. Ich weiss nicht, was aus ihr geworden ist.

Gilgamesh

27. Dezember 2006

Der lauf der nacht war ein einziger traum
die himmel donnerten die erde warf ihr echo zurück
und da war ich stand dazwischen und noch jemand war da –
ich ahnte ihn mehr als daß ich ihn sah:
ich ahnte ihn mehr als daß ich ihn sah:Unheimlich war er
ein schwarzer schatten einer von denen keinerlei licht ausgeht
sie schleichen herum verstohlen und gebückt • von ihren klauen
tropft die bittere galle der nacht • nicht mann noch frau
sind sie hören auf kein gebet und keine bitte
sie sind kalt wie der ständig wehende wind kalt
wie der tod der die schale der dinge zerspringen läßt
und zu scherben zerbricht
und zu scherben zerbrichtDie gefolgsleute des todes sind sie
die söhne des sturmgottes und der königin der unterwelt
dem himmel entrissen und auf die erde geworfen
der giftige laich der götter kreaturen die man hoch oben
schreien hört und in der tiefe winseln
schreien hört und in der tiefe winselnÜber die dächer
kommen sie und kriechen über die häuser
keine tür vermag sie aufzuhalten kein schloß
sie kommen durch die ritzen wie schlangen durch die fugen
wie der frost
wie der frostSie holen sich die frauen aus den armen
des mannes und die kinder von den knien der mütter
und heften sich einem jeden lähmend auf die fersen
und heften sich einem jeden lähmend auf die fersenUnd dann
nahm der ghoul neben mir gestalt an • er glich dem donnervogel
Anzu – seine hände die tatzen eines löwen die fingernägel
die klauen eines adlers • damit griff er mich bei den haaren
Ich schlug auf ihn ein aber er wich meinen hieben aus
er drehte sich unter mir weg ich suchte ihn zu fassen
doch er kam über mich wie die staubigen winde
die sich über die ebenen drehen
die sich über die ebenen drehenUnd mit einem mal lag ich
am boden • er trat mir in die rippen und sein geifer
tropfte auf mich herab • ich schrie nach dir Gilgamesh
ich schrie um hilfe doch du konntest mich nicht retten
du warst wie gebannt
du warst wie gebanntEr schlug auf mich ein
plötzlich aber verwandelte ich mich in einen vogel –
er aber fesselte meine arme wie man flügel zusammenbindet
und stieß mich voran auf einen weg ohne rückkehr
durch die sieben ringmauern die die stadt Irkalla umgeben
Er führte mich ins haus des dunkels das keiner wieder verläßt
der seine schwelle einmal überschritten hat:
der seine schwelle einmal überschritten hat:In dieses haus
wo lehm unser brot ist und wir ein kleid von federn tragen
wie vögel – wo wir im dunkeln leben ohne je das licht
zu sehen
zu sehenDer staub lag dick wie je auf allen mauern
und das schweigen lastete unendlich schwer darauf
Als ich es zum ersten mal betrat da lagen wohin ich auch sah
kronen im staub kronen die man königen abgenommen hatte

Übertragung: Raoul Schrott
aus: Raoul Schrott: „Gilgamesh“
© Fischer Taschenbuch Verlag 2006

Raoul Schrott: Gilgamesh••• Man kann unmöglich von Raoul Schrott sprechen, ohne seine „Gilgamesh“-Übertragung zu erwähnen.

Ich gestehe es gern ein: Bevor mir eine Freundin kürzlich davon erzählte (1000 Dank, liebe Hanna!), war mir das Epos und also auch Schrotts Neuübertragung völlig unbekannt. Welch eine Lese-Lücke!

Raoul Schrotts „Gilgamesh“ ist eine wissenschaftliche Edition. Der rekonstruierte Textkörper wird wiedergegeben. Hinzu kommen eine Fülle von Ausführungen zur Geschichte, zur wahrscheinlichen Entstehung. Doch wie schon in seinem bereits erwähnten Buch „Die Erfindung der Poesie“ liegt für den Literatur-Begeisterten der eigentliche Reiz mehr in der kongenialen Nachdichtung. Schrotts „Gilgamesh“ ist unbedingt mehr als eine Übertragung; ohne seinen Nachdichter könnte dieses Werk kaum in solcher Kraft auf uns wirken.

„Gilgamesh“ ist das älteste sagenumwobene Epos der Menschheitsgeschichte. Für Rilke wie Canetti zählte die Geschichte von Kriegern, Städten und der Suche nach Unsterblichkeit zum „Größten“, was sie je gelesen hatten. Ohne Zweifel gehören die elf zerbrochenen Keilschrifttafeln, die das Epos fragmentarisch überliefern, zu den größten Rätselsteinen unserer Welt.

[vom Umschlagtext der zitierten Ausgabe]

Sappho II

26. Dezember 2006

Ehrlich • ich wollte ich wäre tot
sie hat geweint

als sie mich verließ und zu mir
sagte: wirklich ich wollte ich
wäre tot – wie ungern verlasse
ich dich Sappho!

Und ich sagte zu ihr: sei nicht
traurig du weißt ja wie sehr ich
wie sehr wir dich liebten • traurig
ist nur was man

vergißt und ich weiß ja daß du
alles vergißt was man dir sagt
drum laß dich daran erinnern
wie es war als du

hier bei uns warst: weißt du
noch die kränze aus veilchen rosen
und krokus und jene
aus anis und dill?

Wie wir uns girlanden aus ginster
und gras flochten und sie uns
um den hals legten und wie sie
dich stachen?

Wie viele salben hast du immer
gebraucht – brentho und basileion
für deine haut damit sie glatt würde
wie für einen könig!

Was warst du doch für ein kindskopf
schliefst lang in den tag hinein und
träumtest von wasweißichwas –
wußte ich wem?

Bei keinem einzigen tanz aber hast
du gefehlt keinem einzigen opfer
keinem einzigen trank und es gab
keinen hain

wo wir uns nicht den frühling holten
und ihn mit unseren liedern wieder
vertrieben – du hast ja auch damals
meist falsch gesungen!

Wirklich ich wollte ich wäre tot ich
habe dich weinen gesehen als du fort
von uns gingst und ich nichts richtig
zu sagen vermochte

Sappho, Übertragung: Raoul Schrott
aus: Raoul Schrott: „Die Erfindung der Poesie.
Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“

© dtv 1999

••• Noch eine Sappho-Übertragung aus dem gestern erwähnten Band.

Sappho I

25. Dezember 2006

Wenn du stirbst ist der tod das ende
•••••keiner fragt dann mehr
nach dir und in niemandes erinnerung
•••••wirst du weiterleben
weil du nie teilhattest an den rosen
•••••Pieriens • im haus
des Hades wirst du nur ein schatten
•••••unter allen anderen sein
in der mitte des windes • im nichts

Sappho, Übertragung: Raoul Schrott
aus: Raoul Schrott: „Die Erfindung der Poesie.
Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“

© dtv 1999

Sappho Büste••• Vor zwei Tagen ging das Chanukkah-Fest zu Ende. Die Juden in aller Welt feierten acht Tage lang den wundersamen Sieg der Makkabäer über die Weltmacht Griechenland. Das Volk des Buches war den Griechen nicht wohl gesonnen. Zu gefährlich schien der Einfluss von Gymnasien, Vielgötterei und libertinen Auffassungen zur Sexualität. Der entweihte Tempel, das Verbot des Torah-Lernens und der Befolgung der überlieferten Gesetze gaben auch allen Anlass zu feindlicher Gesinnung.

Was aber wäre die Dichtung ohne die Griechen? Ohne die grossen Epen und antiken Dramen?

An dieser Stelle darf die Erwähnung der alten Griechen also sicher nicht fehlen. In seinem vielgerühmten Buch „Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“ widmet sich Raoul Schrott denn auch ausführlich der antiken griechischen Dichtung. Wissenschaftlich geht er zu Werke; und oft ist sein Blick für meinen Geschmack gar zu kühl. Zu lernen allerdings gibt es viel; und ich verdanke diesem Buch die Wiederentdeckung einer Dichterin, die ich schon als Jugendlicher gern gelesen habe, wenn auch in wesentlich weniger gelungenen Übertragungen.

Raoul Schrott selbst schreibt dazu:

Es gibt so viele Sapphos wie Herausgeber. Die Entzifferung der Worte, die Ergänzung von Silben, ja von ganzen Sätzen, der Zusammenhang einzelner Zeilen und der Gedichte überhaupt, bleibt wie bei keinem anderen Dichter sonst Vermutung und subjektive Interpretation. Die Übersetzung ist es noch mehr, wie die greifbaren – aber kaum lesbaren – wissenschaftlichen Ausgaben mit ihren Interlinearversionen und den Auslassungszeichen zeigen (…)

Wenn man Sappho entdecken will, empfiehlt sich also ein Blick in dieses Buch. Bei Schrott verbindet sich das Wissen des Sprachwissenschaftlers mit poetischem Können. Das Ergebnis sind nahezu leichtfüssige Übertragungen ohne jeden Stelz.

Insel

24. Dezember 2006

Ich habe nur dich,
Herz meines Stammes.

Traurig stimmt mich die Liebe zu dir,
meine Heimat, wenn dunkle Düfte
dem Abend entströmen, von Orangen
oder Oleandern, heiter,
fließt der Bach
mit Rosen bis fast an die Mündung.

Aber wenn ich zu deinen Ufern wiederkehre
und eine holde Stimme auf furchtsamer Straße
zum Gesang ruft,
weiß ich nicht, ob Kindheit oder Liebe,
Sehnsucht nach anderen Himmeln mich treibt,
und ich verberge mich in den verlorenen Dingen.

Salvatore Quasimodo (1930)
Übertragung: Gianni Selvani

••• Dieses Gedicht ist der Sammlung „Versunkene Oboe“ entnommen. Sie enthält Gedichte aus den Jahren 1930 bis 1932.

Von Quasimodo besass ich immer nur die sehr gute Zusammenstellung des Verlages Volk und Welt, den es leider nicht mehr gibt. Die dort zusammengestellten Übertragungen stammen vor allem von Gianni Selvani. Warum – fragte ich mich nach dem letzten Post zu Quasimodo – hast Du Dir nie weitere Bände von ihm besorgt?

Amazon ist – auch was gebrauchte Bücher angeht – eine Fundgrube. Ich habe nach Quasimodo/Selvani gesucht und bin prompt auf ein ganz besonderes Exemplar gestossen: die limitierte Sonderausgabe „Gesammelte Gedichte“, die 1959 anlässlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises exklusiv für den „Kreis der Nobelpreisfreunde“ herausgebracht wurde. Sie enthält neben der Laudatio (gehalten von Dr. Kjell Strömberg, ehemals Kulturattaché an der schwedischen Botschaft in Paris), der Verleihungsrede (von Anders Österling, ständiger Sekretär der schwedischen Akademie) auch einen Essay von Carlo Bo, damals Rektor an der Universität Urbino, zu Leben und Werk Quasimodos.

Die Gedichte stammen aus den bis dahin erschienenen Sammlungen Quasimodos und wurden für die deutsche Ausgabe dieses Sonderdrucks von Gianni Selvani übersetzt. Es soll nicht verschwiegen werden, dass Selvanis Quasimodo-Übersetzungen bei Piper erschienen, aber nicht mehr erhältlich sind.

Diese Sonderausgabe macht mir jetzt auch besondere Freude. Und neue, starke Gedichte gab es auch zu entdecken. Dies hier ist nur eines von vielen.

Was zählt

23. Dezember 2006

Wie lange willst du noch laufen
an der kurzen Leine der Kindheit,
im Gepäck die wohlgemeinten
Redensarten der Hexen und Trolle:
Gedankenfilz und allerlei Unrat
aus fremden Häusern.

Bahnhöfe gibt es,
die musst du verlassen,
bevor der Wartesaal
in dir Wurzeln schlägt
und der Horizont
sich zum Tunnel verengt.

Wir wissen ja nicht, was wahr ist,
sagst du. Wir können nur sagen,
was zählt.

© Benjamin Stein (2006)

••• Zu den Gedichten, die mich begleiten, gehören auch meine eigenen. Aus diesem Grund und nicht, weil ich mich in eine Reihe stellen will mit den hier zitierten Dichtern, bringe ich heute auch eines von diesen Gedichten. Anlass ist noch einmal Hilbigs „bahnhof“.

h. selbst-portrait von hinten

22. Dezember 2006

die hand im haar so hockt er
ruhlos am tisch
und ahnt nicht daß die herbstnacht
die luft an seinem nacken dunkel färbt
er sitzt auf dem sprung er sagt ich bin
solitair
solitairund müde bin ich mir selbst
entflohn (so hockt er am tisch der fremde
wenn ich allein im zimmer bin

(man sieht nicht sein gesicht
was wartet er gekrümmt zur kralle
harrt er des blauen hauchs der ihn belebte
dem mondeslicht das schwächer in die kalten
haine hängt
haine hängtdie tage gingen schnell
glaubt er davonzufahren auf dem stuhl
längst hält ein herbst mit kaltem haar
sein hastiges gebein verhangen

er schwimmt in hundert jahren schlaf
er ahnt nicht daß er selber herbstet
vergangen ist was er vergaß
(der herbst steht kopf der herbst verhöhnt ihn
er merkt es nicht er merkt nicht daß sein atemhecheln
dem atemlosen fehlt der händeringend
ruhlos durch die haine rennt und der
so oft ihn rief
(verkrallt hockt seine hand im haar
das nicht mehr mit ihm denken will

zum schreien seltsam trüben draußen
die sterne die nacht ein

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
© S. Fischer Verlag (1979)

••• Noch einmal Wolfgang Hilbig. Seine „abwesenheit“ steckt voller intensiver Texte. Doch das „selbst-portrait“ hat einen ganz besonderen Reiz. Man liest es kaum wie einen Text. Man schaut es eher an wie ein Bild, das jedoch erst auf der Imaginationsleinwand an Kontur gewinnt, wenn die Worte ganz in uns eingedrungen sind.

Das ist eine der Grenzberührungen zwischen den Künsten, wie sie mir immer vorschwebt. Wie Celan an die Tür der Musik klopft, tritt Hilbig hier bei der Malerei über die Schwelle.