entdeckungen an einer frau

3. Januar 2007

Veil - © by DanceArtist

für ksk

jetzt hast du dein geheimnis
abgestreift wie ein verschlissnes kleid
der schneider eilt
er hebt den arm
ein neues anzumessen
ihm fehlt das garn
die nackte stirn
mit schleiern zu verhängen
die nadel sticht
ihn nur ins eigne hirn
wenn er die hände nicht
von seinen augen reißt

so muss er schweigen gehn
und schauen
staunen

© Benjamin Stein (2006)

••• Noch ein Gedicht für meine Frau. Dieses hier ist für sie geschrieben.

Über die Verführung von Engeln

2. Januar 2007

Crying angel, lost her wings, cannot fly home.... © Mortus-Phallustein

Engel verführt man gar nicht oder schnell.
Verzieh ihn einfach in den Hauseingang
Steck ihm die Zunge in den Hals und lang
Ihm untern Rock, bis er sich nass macht, stell
Ihn, das Gesicht zur Wand, heb ihm den Rock
Und fick ihn. Stöhnt er irgendwie beklommen
Dann halt ihn fest und lass ihn zweimal kommen
Sonst hat er dir am Ende einen Schock.

Ermahn ihn, dass er gut den Hintern schwenkt
Heiß ihn dir ruhig an die Hoden fassen
Sag ihm, er darf sich furchtlos fallen lassen
Dieweil er zwischen Erd und Himmel hängt –

Doch schau ihm nicht beim Ficken ins Gesicht
Und seine Flügel, Mensch, zerdrück sie nicht.

Bertolt Brecht (1948)

••• Da von Engeln die Rede war, heute ein Gedicht für meine Frau. Engel haben für mich schon immer eine besondere Rolle gespielt. Im „Alphabet“ treten Seraphim – das sind Feuerengel – gehäuft in Gestalt von Frauen auf. Beziehungen mit ihnen sind nicht ungefährlich.

Sagt meine Frau: Was haben die Engel davon, transzendental verehrt zu werden? Ausserdem ist die Gefährdungslage eine ganz andere. Flügel sind so zerbrechlich…

5 things

1. Januar 2007

… you didn’t know about me.

Da Turmsegler ein Weblog ist, nehme ich gern den Ball auf, den mein lieber Freund Jens-Christian Fischer mir via Blogosphäre zugeworfen hat. Fünf Dinge soll ich erzählen, die man über mich nicht weiss. Also hole ich mal tief Luft und denke nicht lange nach…

  1. Ich habe nur angefangen zu schreiben, um Mädchen zu beeindrucken. Mit neun, aber die Motivation hat länger angehalten.
  2. Ich war mit 12 schon annähernd so gross wie heute (1.84m). Wie in der DDR üblich, kamen gelegentlich die Talente-Scouts der Berliner Rudervereine in unsere Schule, um nach Leistungssportnachwuchs zu fahnden. Sie wollten mich aber nicht, weil ich einen angeborenen Sehfehler habe und auf dem rechten Auge nahezu nichts sehe. Darüber war ich so verletzt, dass ich auf eigene Faust zu einem anderen Verein gegangen bin. Ich war dann 3x in Folge Jugend-DDR-Meister im Ruder-Einer.
  3. Mit 17 war ich so naiv, dass mir sowas passieren konnte.
  4. Mit 25 habe ich Witze über die jüdische Orthodoxie gemacht: Die haben alle einen Vogel. Jetzt hab ich selber einen.
  5. Drei Monate nach der Geburt meiner Tochter Aaliyah war meine Frau wieder schwanger. Ich hatte wirkliche Angst, ich könnte kein weiteres Kind so lieben wie meine Tochter. Bullshit! (Mach Dir keine Sorgen, David.)

Ich gebe weiter an: RebelThe HedyotRenegade RebbetzinFrummer

Die gestundete Zeit

1. Januar 2007

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

Ingeborg Bachmann, aus: „Die gestundete Zeit“
R. Piper & Co. Verlag 1957

Die gestundete Zeit.••• Schaut man sich die bislang hier zitierten Autoren an, könnte man meinen, die Männer hätten mir mehr mitzuteilen als die Dichterinnen. Das Gegenteil ist der Fall. Es waren und sind immer wieder vor allem Texte von Frauen, die mich inspirieren und lange Zeit begleiten. In den nächsten Tagen wird das auch auf dem Turmsegler spürbar werden.

Wenn ich Dichterinnen sage, beginnt und endet meine Assoziation mit Ingeborg Bachmann. Zum Neujahrstag sei den Lesern die „Gestundete Zeit“ in Erinnerung gerufen: Es kommen härtere Tage.

Allen Turmsegler-Lesern wünsche ich Gesundheit und gutes Gelingen beim Bestehen der vielen Herausforderungen – und immer genügend Zeit für eine tägliche Dosis Poesie.

Die Büchse der Pandora

31. Dezember 2006

Zu bestimmten Zeiten, das könnten die Zwölf Haydnischen Nächte sein, haben unsere Männer, von denen wir im Streit geschieden sind, gewisse Macht über uns. Das dürfen sie nie erfahren. Die möglichen glücklichen Konstellationen werden ihnen verborgen sein, weil sie dergleichen nie zu hoffen wagen und wir ihnen auch in sieben greifbaren Jahren merkwürdig fremd geblieben sind. Die Schrift hier wird ihr übriges tun. Sie an Tagen sicher machen, wo bei uns nichts zu holen ist. Sie werden immer zur falschen Zeit zum Telefonhörer greifen, und das bewirkt, daß wir unserer letzten Liebe wieder treu sind auf Jahre.

Sarah Kirsch, aus: „Drachensteigen“
zu finden in: „Sämtliche Gedichte“
© Deutsche Verlags-Anstalt 2005

Orient Express Werbeplakat••• An einem 31. Dezember – ich glaube, es war 1997 – fuhr ich mit meiner damaligen Lebensgefährtin im historischen Orient Express durchs tief verschneite Bayern. Es hatte minus 25 Grad. Auch in den Waggons war es bitterkalt, die Scheiben dicht zugefroren. Wir kratzten Figuren und zwei kleine Gucklöcher ins Eis und tranken Tee.

Es war eine nostaligische Fahrt. Wir waren im siebten Jahr und bestürzt über die Entfernung zwischen uns. Die Jahresendstimmung, das Ambiente des alten Waggons und die Figuren im Eis machten einen Augenblick, wie Sarah Kirsch ihn beschreibt. Wir hofften mit Brecht:

Der abgerissene Strick kann wieder geknotet werden.
Er hält wieder, aber
Er ist zerrissen.

Der Augenblick währte nur kurz, wie es Augenblicke an sich haben. Es gab einen wehmütigen Abschied, als der Zug nach der Rundfahrt München wieder erreicht hatte. Die Kälte hing uns bitter in allen Gliedern.

Vom geknoteten Strick war später noch manches Mal die Rede. Gehalten hat er nicht.

Aschenzeit

30. Dezember 2006

Friedrich Hölderlin••• Meine Frau hat Wort gehalten. Unter den Überraschungen zu Chanukkah fand sich auch der vom Rimbaud-Verlag besorgte Band „Aschenzeit“ mit einem Querschnitt durch das poetische Werk von Immanuel Weissglas. [Der Verlag hält sich an die deutsche Schreibung mit ß.]

So sehr ich mich über das Buch auch gefreut habe, die Gedichte selbst sind leider eine Enttäuschung. Überall scheint er allzusehr Gefangener der von ihm gewählten Formen zu sein. In dem hier zuvor zitierten Gedicht „ER“ ist das ebenfalls spürbar. Doch er ist in diesem Gedicht in seinen Bildern noch am originellsten. Warum ausgerechnet dieses Gedicht nicht in die Sammlung aufgenommen wurde, ist mir ein Rätsel.

Unbedingt lesenswert ist das Nachwort „Eine leise Stimme“ von Leo Buck.

Diejenigen, die mit ihm [Weißglas] zu tun hatten, betonen übereinstimmend das unauffällige, zurückhaltende und bescheidene Auftreten dieses Mannes. Die Zurückgezogenheit gehörte offenbar zu seinem Lebensprogramm. Insofern kann es nicht wundernehmen, daß Weißglas seine Hauptleistung, die Versübertragung beider Teile der „Faust“-Dichtung Goethes [ins Rumänische], unter einem Pseudonym veröffentlichte. Ebenso tief bezeichnend sind kritische Vorbehalte und lebenslanges Zögern gegenüber der eigenen literarischen Arbeit. Das Frühwerk verwarf er gänzlich. Vielsagend schrieb er hierzu am 14. März 1974 (seinem 54. Geburtstag): „Das Wortwrack meiner Frühzeit möge ungeborgen bleiben“. Selbst den Weggang aus dem Leben hat Weißglas getreu seiner Maxime eines Daseins „in der weisen Einsiedelei“, konsequent vorbedacht. Während seiner langen Krankheit – er starb an einem Gehirntumor- verfügte er seine Einäscherung ohne jede Zeremonie sowie eine Form der Bestattung, die keine Spuren hinterläßt. Seine Asche wurde ins Schwarze Meer gestreut.

Seine Entscheidung, in Rumänien zu bleiben, als Paul Celan 1947 das Land verliess, spricht ebenfalls Bände. Der Celansche Anspruch „Und setze dich frei“ hatte offenbar für Weissglas keine Geltung. Dem Thema der frühen Freundschaft, die mit dem Weggang Celans endete, der Frage von Nähe und Distanz zwischen beiden widmet sich das Nachwort ebenfalls ausführlich.

Nein, poetische Entdeckungen gab es für mich in diesem Buch nicht. Aber immerhin verdanke ich dem Rimbaud-Band nun doch die Bekanntschaft mit einer ungewöhnlichen Biographie.

Die Engel

29. Dezember 2006

Der Himmel auf tönernen Füßen
Wir fahren darunter in kleinen Autos
Die Brücken
Fangen ihn ab eine Zeit lang
Wird er blau sein, Vögel
Und Nacht und Tag und manchmal
Ein Nordlicht in fremden Breiten
Einer wird, in verwirrenden Farben, ihn sehn
Wenn ihm gut oder nicht ist und der Mond und die Sonne
Hineingeschossene Löcher
Werden kühlen wärmen bis dann
Die letzte Stunde gekommen ist
Und die Engel mit eiskalten Augen
Die großen Blätter auf denen Geschichte verzeichnet ist
Einrollen ein neues
Licht anzünden

Sarah Kirsch, aus: „Landaufenthalt“
zu finden in: „Sämtliche Gedichte“
Deutsche Verlags-Anstalt 2005

Sämtliche Gedichte••• August 1977: Ich fieberte meinem ersten Schultag entgegen. Da verliess Sarah Kirsch mein kleines Land. Ich wusste nichts von ihr.

Erst sieben oder acht Jahre später – Sarah Kirsch hatte gerade den Friedrich-Hölderlin-Preis erhalten und lebte unterdessen in Schleswig-Holstein – raunte Undine Materni mir zu: „Sarah Kirsch ist sowieso die Grösste…“

Ob sie sich daran noch erinnert? Die Grössenverhältnisse wechseln ja mitunter im Laufe der Zeit. – Wie dem auch sei: Ich war damals für diese Gedichte zu jung und habe sie erst viel später für mich entdeckt.

Von der DVA gibt es seit letztem Jahr eine – vorläufige! – Gesamtausgabe der Gedichte von Sarah Kirsch. Beim Blättern sind mir noch zwei andere Texte wiederbegegnet. (Stay tuned!)