Die Tage kommen über den Fluss

10. Januar 2007

Charon on the Styx. Painting by Joachim Patenier, 1515-24. Museo del Prado, Madrid.

Die Tage kommen
über den Fluss. Charons Boot
schlingert zuweilen. Er legt an.
Lädt die Fracht ins modrige
Schilf. Kisten voll Zeit.
Dann wendet er Gesicht und Boot
lächelt und taucht
die Ruder ins Wasser.

Der Himmel
ein tanzendes Auge
aus Blau ist ihm
über. Die Hand am Blatt
wechselt er Ufer
um Ufer.

Zwei Männer steigen
durch klebrigen Schlamm.
Greifen die Fracht. Schütteln.
Wind aus dem Haar
als sei er ein Fremder. Laden
die Kisten auf einen
hölzernen Karren. Der bricht nicht
das Ufer vom Fluss

das Herz zu betäuben
die zuckenden Kehlen. Die Zungen sind
rot und das Blut an den aufgerissenen
Händen wechselt ins Schwarz.

Undine Materni, aus: „Die Tage kommen über den Fluss“
Literaturstiftung Tikkun, Warschau
© Undine Materni 2006


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Das Bildnis des Dorian Gray

9. Januar 2007

Szenenfoto, Picture of Dorian Gray (1945)Ruhig trat er ein, schloß die Tür hinter sich ab, wie er es immer tat, und riß den Purpurvorhang von dem Bild. Ein Schrei des Schmerzes und der Empörung entrang sich ihm. Die einzige Veränderung, die er zu entdecken vermochte, war ein Ausdruck der List in den Augen und ein scheinheiliger Zug um den Mund. Das Bild war noch immer widerwärtig – widerwärtiger denn je, falls das überhaupt möglich war. Der scharlachrote Fleck auf der Hand glänzte feucht und sah aus wie frisch vergossenes Blut. […]

Er sah sich um. Dort lag das Messer, das Basil Hallward zum Verhängnis geworden war. Er hatte es oftmals gereinigt, kein Fleck war mehr darauf sichtbar. Es glänzte und gleißte. Wie es den Maler getötet hatte, so sollte es auch des Malers Werk töten und alles, was damit zusammenhing. Es sollte die Vergangenheit aus der Welt schaffen – wenn sie tot war, würde er frei sein, erlöst von dem schrecklichen Anblick seiner Gestalt gewordenen Seele. Er griff das Messer und stieß es in das Bild. […]

Oscar Wilde, aus: „Das Bildnis des Dorian Gray“


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Salome (Oscar Wilde)

8. Januar 2007

Ein riesengrosser schwarzer Arm, der Arm des Henkers, streckt sich aus der Zisterne heraus, auf einem silbernen Schild den Kopf des Jochanaan haltend. Salome ergreift ihn. Herodes verhüllt sein Gesicht mit dem Mantel. Herodias fächelt sich zu und lächelt. Die Nazarener sinken in die Knie und beginnen zu beten.

Aubrey Beardsley - SalomeSalome: Ah! Du wolltest mich deinen Mund nicht küssen lassen, Jochanaan! Wohl, ich will ihn jetzt küssen. Ich will mit meinen Zähnen hineinbeissen, wie man in eine reife Frucht beißen mag. Ja, ich will ihn küssen, deinen Mund, Jochanaan. Ich hab es gesagt; hab ichs nicht gesagt? Ich hab es gesagt. Ah! Ich will ihn jetzt küssen… Aber warum siehst du mich nicht an, Jochanaan? Deine Augen, die so schrecklich waren, so voller Wut und Verachtung, sind jetzt geschlossen. Warum sind sie geschlossen? Öffne doch deine Augen! Erhebe deine Lider, Jochanaan! Warum siehst du mich nicht an? Hast du Angst vor mir, Jochanaan, daß du mich nicht ansehen willst? … Und deine Zunge, die wie eine rote, giftsprühende Schlange war, sie bewegt sich nicht mehr, sie spricht kein Wort, Jochanaan, diese Scharlachnatter, die ihren Geifer gegen mich spie. Es ist seltsam, nicht? Wie kommt es, dass diese rote Natter sich nicht mehr rührt? … Du wolltest mich nicht haben, Jochanaan! Du wiesest mich von dir. Du sprachst böse Worte gegen mich. Du benahmst dich gegen mich wie gegen eine Hure, wie gegen ein geiles Weib, gegen mich, Salome, die Tochter der Herodias, Prinzessin von Judäa! Nun wohl! Ich lebe noch, aber du bist tot, und dein Kopf gehört mir! Ich kann mit ihm tun, was ich will. Ich kann ihn den Hunden vorwerfen und den Vögeln der Luft. Was die Hunde übrig lassen, sollen die Vögel der Luft verzehren… Ah! Jochanaan, Jochanaan, du warst der Mann, den ich allein von allen Männern liebte! Alle andern Männer waren mir verhaßt. Doch du warst schön! Dein Leib war eine Elfenbeinsäule auf silbernen Füssen. Er war ein Garten voller Tauben und Silberlilien. Er war ein silberner Turm, mit Elfenbeinschilden gedeckt. Nichts in der Welt war so weiß wie dein Leib. Nichts in der Welt war so schwarz wie dein Haar. In der ganzen Welt war nichts so rot wie dein Mund. Deine Stimme war ein Weihrauchgefäss, das seltene Düfte verbreitete, und wenn ich dich ansah, hörte ich geheimnisvolle Musik. Oh! Warum hast du mich nicht angesehen, Jochanaan? Mit deinen Händen als Mantel und mit dem Mantel deiner Lästerworte verhülltest du dein Gesicht. Du legtest über deine Augen die Binde Eines, der seinen Gott schauen wollte. Wohl! Du hast deinen Gott gesehen, Jochanaan, aber mich, mich, hast du nie gesehen. Hättest du mich gesehen, so hättest du mich geliebt! Ich sah dich, und ich liebte dich! Oh, wie liebte ich dich! Ich liebe dich noch, Jochanaan! Ich liebe nur dich… Ich dürste nach deiner Schönheit! Ich hungre nach deinem Leib; nicht Wein noch Äpfel können mein Verlangen stillen. Was soll ich jetzt tun, Jochanaan? Nicht die Fluten, noch die grossen Wasser können dies brünstige Begehren löschen. Ich war eine Fürstin, und du verachtetest mich, eine Jungfrau, und du nahmst mir meine Keuschheit. Ich war rein und züchtig, und du hast Feuer in meine Adern gegossen… Ah! Ah! Warum sahst du mich nicht an? Hättest du mich angesehen, du hättest mich geliebt. Ich weiß es wohl, du hättest mich geliebt, und das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes.

Oscar Wilde, aus: „Salome“
übertragen von Hedwig Lachmann


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Salome

7. Januar 2007

Salome - by lawrencew

Das Riesenrad dreht sich nicht, es ist Nacht.
Der Wind bewegt die Gondeln, in der obersten
Auf einer Holzbank die Tänzerin, die Schuhe
Zertanzt. Sie ist achtzehn mit allen Diplomen
Seit sie den Roten liebt den mit der weissen Haut
Er über die Welt spricht
Tanzt sie wie eine Feder.

Der Rote wiegelt die Leute auf
Da steht er am Fenster zählt Flugblätter ab
Setzt sich aufs Fahrrad rollt über das Pflaster
Das war das Attentat.
Der Rote hat eine Kugel im Kopf und redet
Irre. Das Riesenrad dreht sich nicht

Salome schaukelt
Kommt nicht aus der Gondel, nicht diese Nacht
Salome hat sich
Eingeschlossen. Später
Muß sie gehn und fordert den Kopf.

Sie tanzt wie eine Feder
Leicht gebogen, den Kopf zurück, auf den Zehn.

Sarah Kirsch, aus: „Landaufenthalt“
zu finden in: „Sämtliche Gedichte“
© Deutsche Verlags-Anstalt 2005


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Akzente

6. Januar 2007

••• Im Dezember habe ich mit Zuneigung von „Sinn und Form“ als altehrwürdiger Freundin berichtet. Nicht weniger ehrwürdig ist eine weitere Literaturzeitschrift, die seit nun schon 53 Jahren vom Hanser Verlag herausgegeben wird: „Akzente“.

Interessenten können ein Kennenlernexemplar kostenfrei online bestellen. Eine Übersicht über die bisherigen Ausgaben, die zum Teil bestellbar sind, findet sich hier. Wer wirklich an Lyrik interessiert ist, wird um ein Abonnement nicht herumkommen.

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Hälfte des Lebens

5. Januar 2007

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Friedrich Hölderlin (1770-1843)

Friedrich Hölderlin••• Mir hatte es bei diesem Autor die Biographie immer mehr angetan als sein Werk. Ich gebe es gern zu: Während ich mit den die Griechen rühmenden Hymnen nichts anfangen konnte und noch immer nicht kann, übte die Vorstellung des aus Liebe irr Gewordenen und ein halbes Leben im Turm von der Welt abgekehrten Dichters zu meiner Abiturzeit eine ungemein starke Faszination auf mich aus. Über Mangel an Identifikationspotential konnte ich wirklich nicht klagen…

Aus all seinen Werken, die wieder und wieder gerühmt wurden als „vollendete Sprachgebilde, deutsche Sprachwunder“ [Johannes R. Becher], stach für mich ein Gedicht heraus, das mich ganz und gar und unmittelbar traf: „Hälfte des Lebens“. Bei diesem Stück Dichtung war es vorbei mit der „heiligen Schicklichkeit“, die für Hölderlin die Kunst nach eigenem Bekunden war. Vor diesen Zeilen stand ich sprachlos da. Mehr als diese hätte er, dachte ich damals, nicht schreiben müssen, um seinen Ruhm zu rechtfertigen.

Unterm Bett ihre Schuhe

4. Januar 2007

Unterm Bett ihre Schuhe
sie bewahren
die Form ihrer Füße
die Wärme ihrer Füße
sie atmen
Zwei weiße Vögel
mit pechschwarzen Augen
um den Hals
ein Nickelring

Jannis Ritsos, aus: „Kleine Suite in rotem Dur“
Übertragung: Thomas Nicolaou
Verlag Volk & Welt Berlin 1984

Jannis Ritsos••• Da von Griechen die Rede war… – Den Lizenzausgaben des Verlages Volk & Welt verdanke ich einen großen Teil meiner fragmentarischen literarischen Bildung. Diesen Band mit Liebesgedichten von Jannis Ritsos habe ich besonders gehütet. Den deutschen Übertragungen von Thomas Nicolaou stehen Ritsos-Handschriften der Gedichte gegenüber, illustriert mit 24 Steinzeichnungen des Autors.

Auch so ein Buch, das man nicht verleihen darf… Wer Glück hat, findet noch ein gebrauchtes Exemplar auf amazon.de.