30. Januar 2007
Meine Tochter zürnt mir
weil ich ihr nicht schenke
was sie sich wünscht
Mond und Sterne
Ich biete ihr Sonnenstrahlen an
nein sagt sie
die Sonne mag ich nicht
ich kann ihr nicht ins Auge sehn
Ich erzähle ihr das Märchen
von Dornröschen
Gib mir
den Prinzen
er soll mich heiraten
befiehlt sie
Warte ein Weilchen
antworte ich
inzwischen erzähle ich dir Märchen
aus tausendundeiner Nacht
Dies ist die erste Nacht
Rose Ausländer, aus: „Regenwörter. Gedichte“,
© Philipp Reclam jun. Stuttgart 1994
••• Von „Tausendundeiner Nacht“ war die Rede; da fiel mir gleich wieder eines der Gedichte von Rose Ausländer ein, die ich in diesem liebevoll zusammengestellten Reclam-Heft zum ersten Mal gelesen habe.
Den Prinzen hat meine Tochter noch nicht von mir eingefordert. Sie ist erst vier. Einen Stern hätte sie schon gern. Sie zeigt ihn mir immer am Nachthimmel, wenn ich sie ins Bett bringe und wir durchs Fenster ins kleine Himmelsquadrat des Hinterhofs schauen können.
Sie hat sich auch drei Lehrerinnen gewünscht. Sie müssten in unterschiedlichen Schulen sein und verschiedene Frisuren haben. Bei der einen möchte sie tanzen lernen, bei der zweiten Musik. Bei der dritten erst lesen und schreiben. In dieser Reihenfolge.
Ich muss ihr wohl noch mehr vorlesen…
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29. Januar 2007
••• Stephan Hermlins „Abendlicht“ habe ich 1980 von meiner Mutter oder meiner Großmutter geschenkt bekommen. Ein Buch zur Unzeit für mich. Ich war gerade einmal zehn Jahre alt. Nichts vom Erzählten ist mir in Erinnerung geblieben. Aber der tiefe Eindruck der Poesie dieses Buches hat sich im Gedächtnis festgesetzt.
Ich habe im Laufe der Zeit so manches Buch gelesen, von dem ich nichts oder nur wenig verstanden habe. Das machte mir gar nichts. Ich konnte immer eintauchen in die Sprache, ihrem Klang nachlauschen, ihrem Rhythmus folgen, mich in den Assoziationen verlieren, die einzelne Worte oder Wendungen in mir entzündeten.
Die Bücher hinterliessen eine Stimmung, eine Atmosphäre, Klänge und Sprachsplitter, an die ich mich noch lange erinnern konnte und noch immer erinnere. So habe ich Friederike Mayröcker gelesen, deren Prosa zu einer solchen Art des Lesens geradezu einlädt. So las ich damals aber auch das „Abendlicht“.
Es funktioniert immer noch. Seit ich das Buch vor einigen Tagen aus dem Regal gesucht habe, kann ich mich nicht davon lösen. Der gleiche Zauber, doch heute fesselt mich auch das Erzählte. Und ich finde – es gibt ja keine Zufälle – heute im „Abendlicht“ einen Abschnitt, der von einer ähnlichen Erfahrung mit dem Lesen berichtet…
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Tags: Stephan Hermlin • Prosa
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28. Januar 2007
••• Die Bekanntschaft mit den Gedichten von Zbigniew Herbert verdanke ich Charlotte. Und sie war es auch, die mir eines Tages in grosser Aufregung von Friederike Mayröcker erzählte. In der schwarzen Spektrum-Reihe des Verlages Volk und Welt war 1986 ihre Erzählung „Reise durch die Nacht“ erschienen. Daraus las sie mir vor. Sie las langsam, wie beschwörend.
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Tags: Friederike Mayröcker • Prosa
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27. Januar 2007
Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
Auf lange Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.
An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.
Alfred Lichtenstein (1889-1914)
••• An den Kyrill-Tagen kamen hier ja zwei (Vor)-Expressionisten zu ihrem Recht. Dabei bin ich auf eine Perle von Alfred Lichtenstein gestossen, die ich den Turmseglern nicht vorenthalten wollte.
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Tags: Alfred Lichtenstein • Lyrik
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26. Januar 2007
Ich habe Zeit,
einen Baum
zu betrachten,
sein Geheimnis
zu ergründen –
warum er standhielt
den Stürmen.
Dies ist die Antwort
des Baums:
Wachsen zu gleicher Zeit
in die Höhe
und in die Tiefe.
Ulrich Grasnick, aus: „Der vieltürige Tag“
Verlag der Nation Berlin 1973
© Ulrich Grasnick 1992
••• Ich erinnere mich noch heute, wie Uli dieses Gedicht zum ersten Mal (für mich) in seinem Zirkel rezitierte: mit blitzenden Augen. Bilde ich es mir nur ein oder kam dieses Zitat immer grad dann, wenn einer von uns wieder einmal ganz besonders wortgewandt hatte sein wollen?
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25. Januar 2007
Wind fährt herab,
wir sehen den Staub
nicht im Dunkel –
Wir finden
ein verlassenes Feuer,
darin noch schwelt
die vergangene Stunde –
Wir kaufen
Erinnerungen ein
in einem fremden Land,
wir suchen Glück zu entdecken,
und doch kehren wir nur zurück
mit den Feuern,
die in uns sich bergen.
Ulrich Grasnick, aus: „Der vieltürige Tag“
Verlag der Nation Berlin 1973
© Ulrich Grasnick 1992
••• Nicht von ungefähr haben Ulrich und Charlotte Grasnick sich mehrfach gemeinsam auf den dichterischen Weg gemacht. Immer wieder sind ihre Gedichte auch Gespräch untereinander. Natürlich darf Ulrich Grasnick hier nicht unerwähnt bleiben.
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24. Januar 2007
Mein Bruder im äußersten Schwung am blauen Anschlag der Himmel Land ohne Eile als wären die Augen verbunden ein Tasten danach mit einem bestimmten Gefühl für Tonhöhe beginnen ohne den Ton vorzugeben ich muß laut zählen den Takt halten im vierhändigen Erinnern o was jetzt da ist und alles noch einmal von vorn das Bilderbuch aufschlagen der Stern so tief eingesunken im Schnee daß er erlosch ich suche die Stelle sein Leuchten zwischen den Seiten mein Bruder ich möchte hoch hinausfliegen Propellerschleife im Haar der Tag mit meinem Mund öffnet die Lippen spielt mit schillernden Seifenblasen die Luftlinie schwirrt in der Farbe des Balls weit über den Zaun Kindheit ein Spielzeug auf Rädern dich ziehe ich hinter mir her das Wachsen an der Hand der Mutter das Wachsen an der Hand der Großmutter ihr ruhiges Miteinander die Zeit ohne Männer im Dorf Mutter mit wundgescheuerten Füßen am Abend ihr Überlandgehen nach Kartoffeln und Mehl Großmutters Stimme Wenn er blutet ist er nicht giftig schneidet den Blutreizker auf im Keller das eingesperrte Lachen Ballons mit Obstwein ängstlich gemieden die Distel bringt Trauer ins Haus einmal von Furcht geschüttelt ich liege in einem Sarg bin nicht tot meine Mutter trägt mich auf dem Rücken zurück in die Stube seitdem brennt die Lampe im Nebenzimmer der Türspalt durch den das Licht fällt immer nur zu Besuch mein Vater heimlich bewundre ich ihn einst hat er mir im Spielzimmer des Himmels den Großen Bären gezeigt meine Zöpfe werden länger ich wachse ein erstes Nachdenken was ist schön
Charlotte Grasnick, aus: „Blutreizker“
Verlag der Nation Berlin 1989
© Charlotte Grasnick 1992
••• Einen, der unerschütterlich von sich überzeugt war, haben wir vor kurzem erwähnt. Charlotte – und ich selbst übrigens auch – zählen eher zu den Zweiflern. So schrieb sie mir auch sehr treffend als Widmung in ihren ersten eigenen Lyrikband „Blutreizker“ folgende Strophe aus einem anderen ihrer Gedichte…
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Tags: Charlotte Grasnick • Lyrik
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