i carry your heart…
14. Februar 2007Ich bin beschenkt worden
und werd es täglich wieder.
Das macht mich froh.
An Schneeflöckchen werd ich
ein Schneeflöckchen senden.
Das hält nicht lang
aber macht sie
froh.
entwürfe
14. Februar 2007••• Zwei ehrwürdige deutsche Literaturzeitschriften mit über fünfzigjähriger Geschichte sind hier bereits ausführlicher erwähnt worden: Sinn und Form und Akzente. Deutlich jünger und in mancher Hinsicht auch frischer sind die Schweizer „entwürfe“, eine weitere deutschsprachige Zeitschrift für Literatur.
Ihre Wurzeln hat die Zeitschrift im Autorenforum „einspruch“, das 1986 bis 1991 von Max Frisch, Alexander J. Seiler, Arnold Künzli, Otto F. Walter, Erica Pedretti und Adolf Muschg herausgegeben wurde. Mitte der neunziger Jahre fusionierte „einspruch“ mit der nur vier Jahre vor dem Autorenforum gegründeten „zündschrift“. Herausgegeben wird das 150 Seiten starke Heft vierteljährlich in einer Auflage von etwa 1000 Exemplaren durch den Verein „entwürfe“. Dies gelingt nur dank der finanziellen Unterstützung durch die Stiftung Pro Helvetia, den Migros Kulturprozent und Förderabos, deren Abnehmer sich das Heft ein Vielfaches des aufgedruckten Preises von 12 € bzw. 19 Franken kosten lassen.
Was wir uns erzählen…
13. Februar 2007Was wir uns erzählen
aus Kindheitstagen
ich erinnere mich an die Geräuschemacher
Regen, Sturm und Gewitter
niemand nimmt meinen Schatten an
über den Zaun geworfen ein Gnadenblick
für das Gesicht
und das Haus fällt in Tränen
aus deinen Augen
Das stille Weinen ist leicht
hörst du es?
du mußt leise sein
die Schultern sind es nicht gewohnt
so heftig bewegt zu werden
Charlotte Grasnick, aus: „Nach diesem langen Winter“
Verlag Un Art Ig Aschersleben
© Charlotte Grasnick (2003)
Botschaften des Regens
12. Februar 2007Nachrichten, die für mich bestimmt sind,
weitergetrommelt von Regen zu Regen,
von Schiefer- zu Ziegeldach,
eingeschleppt wie eine Krankheit,
Schmuggelgut, dem überbracht,
der es nicht haben will –
Jenseits der Wand schallt das Fensterblech,
rasselnde Buchstaben, die sich zusammenfügen,
und der Regen redet
in der Sprache, von welcher ich glaubte,
niemand kenne sie außer mir –
Bestürzt vernehme ich
die Botschaften der Verzeiflung,
die Botschaften der Armut
und die Botschaften des Vorwurfs.
Es kränkt mich, daß sie an mich gerichtet sind,
denn ich fühle mich ohne Schuld.
Ich spreche es laut aus,
daß ich den Regen nicht fürchte und seine Anklagen
und den nicht, der sie mir zuschickte,
daß ich zu guter Stunde
hinausgehen und ihm antworten will.
Günter Eich, aus: „Botschaften des Regens“
© Suhrkamp Verlag 1955
Heimweh
11. Februar 2007••• Fast auf den Tag zwölf Jahre ist es her, dass ich mit einem Computer, einem Koffer und ein paar Kisten in München angekommen bin. Die ersten drei Jahre habe ich in Sklaverei verbracht. Ich ging um 9 in die Redaktion, kam gegen Mitternacht nach Hause, sah mir die Nachtwiederholung der täglichen Startrek-Folge an und fiel ins Bett. Die Wochenenden verbrachte ich meist auch im Büro oder flüchtete nach Berlin, woher ich gekommen war.
Von München habe ich nichts mitbekommen. Und überhaupt: Das war ja alles nur vorübergehend, und früher oder später würde ich wieder zu Hause sein. Selbst, als ich meine spätere Frau kennengelernt hatte, fuhren wir nach Berlin und spähten einige Strassenzüge aus, in denen sich wohnen liesse.
lasst nur die Toten Tote sein
11. Februar 2007lasst nur die Toten Tote sein. und legt sie schlafen unter Rinden
jetzt wo sie einmal Tote sind. ihr sollt sie binden fest
an Stricken unter schweren Steinen und keine Lilien auf die Gräber
die duften ja umsonst. stellt ihnen sieben Hütten drauf aus Stroh
die sind genug. da kommt nichts, nein, wenn Sehnen einmal reißen
und volle Herzen mal geschlagen sind. die schmalen Ohren doch mit Grind
und Erde jetzt. ach lasst die Toten schlafen, ihr.
den andern sollt ihr Wasser geben. wohl warmes Blut aus euren Kehlen
viel Milch, Muskat, drei Tüten Thymian, auch Zuckerhüte, wenn ihr habt
und manchmal eine Unze Gold. Vor allem sind sie durstig, sollt ihr wissen:
das Blut kühlt ihre Kehlen sehr und Wasser wühlt die Äcker auf. das macht
.die andern fester träumen.
Ulrike Almut Sandig, aus: „Zunder“,
Connewitzer Verlagsbuchhandlung Peter Hinke
© Ulrike Almut Sandig 2005-2007
••• Als ich in Ulrikes „Zunder“ stöberte und das Totengedicht zum ersten Mal las, wanderten meine Gedanken unwillkürlich zu der langen Tafel im „Gang der Erinnerung“ unserer neuen Synagoge am Münchner Jakobsplatz: über 4.500 Namen von Münchner Juden, die aus den Vernichtungslagern nicht heimgekehrt sind. Und ich dachte ebenso an eine ähnliche Namenstafel auf dem Friedhof der Sozialisten in Berlin Friedrichsfelde, auf der unter vielen anderen auch der Name meines Urgrossvaters steht, der 1933 in einem Gestapo-Gefängnis starb.