Walking around

15. März 2007

laundry time... © 2007 by patrickbateman@deviantart.com

Es geschieht, daß ich müde bin, Mensch zu sein!
Ich trete in Schneiderstuben, in Kinos
schlapp, undurchdringlich wie ein Schwan aus Filz,
der auf einem Wasser aus Ursprung und Asche treibt.

Der Geruch des Frisiersalons läßt mich laut schluchzen.
Ich möchte nichts weiter als eine Ruhe von Steinen oder Wolle,
ich will keine Verordnungen, keine Gärten mehr sehen,
keine Waren, keine Brillen, keine Fahrstühle.

Es geschieht, daß ich überdrüssig meiner Füße, meiner Nägel bin,
und meines Haars und meines Schattens!
Ich bin es müde, Mensch zu sein.

Dennoch wäre es köstlich,
einen Notar mit einer ausgerauften Lilie zu erschrecken
oder eine Nonne mit einer Ohrfeige umzubringen.
Es wäre wunderbar,
mit einem grünen Messer durch die Straßen zu laufen
und Lärm zu schlagen, bis man tot umfällt vor Kälte.

Ich mag nicht mehr Wurzel sein in der Finsternis,
schwankend, ausgestreckt, zitternd vor Schläfrigkeit,
abwärts immer, ins nasse Eingeweid der Erde,
saugend und sinnend, essend Tag um Tag.

Ich mag soviel Unheil nicht für mich.
Mag nicht weiterhin Wurzel sein und Grab,
verlassener Schacht, Kellergewölb mit Toten,
kältestarr, vor Leid zugrunde gehend.

Darum flammt der Montag wie Erdöl auf,
wenn er mich kommen sieht mit meinem Kerkergesicht,
und er heult in seinem Verlauf wie ein wundes Rad
und macht Schritte von heißem Blut der Nacht entgegen.

Und er treibt mich in manche Winkel, in manch feuchte Häuser,
in Spitäler, wo die Knochen durch die Fenster herauskommen,
in manche Schusterstube, die nach Essig riecht,
in Straßen, erschreckend wie Erdrisse.

Es gibt Vögel, schwefelfarbig, und gräßliches Gedärm,
die an den Türpfosten der Häuser hängen, die ich hasse.
Es gibt Gebisse, in einer Kaffeekanne vergessen,
es gibt Spiegel,
die hätten weinen müssen vor Scham und Entsetzen,
Schirme gibt es allerorts und Gifte und Nabelschnüre.

Und ich schlendre umher, mit Gelassenheit, mit Augen, mit Schuhen,
mit Wut, mit Vergessen,
ich geh vorüber, quere Amtsstuben und orthopädische Läden,
und Höfe, wo an einem Draht Wäsche hängt:
Unterhosen, Handtücher und Hemden, die langsame
schmutzige Tränen weinen.

Pablo Neruda
Übertragung: Erich Ahrendt

••• Weiter gehts mit Don Pablo. Ich hatte ja angedroht, ein paar Entdeckungen zu präsentieren, Gedichte, in denen es weniger odenhaft zugeht. Dieses hier hat es mir besonders angetan.

over the bones

14. März 2007

••• Was ist schon das Schlachtfeld der Liebe gegen das Schlachtfeld der Kindheit?

In manchen Biographien findet der totale Krieg bereits in den ersten Jahren statt, so dass alles Folgende nur als Scharmützel erscheint. Von solchen Kämpfen berichtet Susanne Englmayer auf „over the bones“. Das sind Geschichten, die man so schnell nicht vergisst, Geschichten, die tiefste Verletzungen schildern wie im Vorbeigehen.

Sie spielen Vater Mutter Kind. Meistens im Sommer. Decken sind auf der Wiese ausgebreitet. Stellen die Wohnungen dar. Bunte Flecken im Grün. Das Spiel ist einfach. Man legt sich schlafen. Steht wieder auf. Der Vater verläßt die Wohnung. Essen wird gekocht. Kinder versorgt. Ab und zu gehen die Mütter einkaufen. Bis an den nächsten Hauseingang. Der ist das Geschäft. Die Decken bleiben dann verlassen. Für eine Weile. Aber nicht lange. Die Jungs spielen die Väter. Viel haben sie nicht zu tun. Sie kommen nach Hause, um sich auf der Decke auszustrecken. Nach einer Weile stehen sie wieder auf. Beeilen sich, den Ort der Handlung zu verlassen. Sie warten dann abseits und spielen Karten. Autoquartett. Oder kritzeln mit geeigneten Steinen großflächig auf den Fußwegen rum. Die jüngeren Geschwister, die, auf die die Mädchen aufpassen müssen, jeden Tag, zwei Stunden lang, sind die Kinder. Sie haben den angenehmsten Part. Dürfen jammern und quengeln. Dürfen wieder Babys sein. Auch wenn sie schon größer sind. Dürfen sich tragen und ziehen lassen. Dürfen allen auf die Nerven gehen. Besonders den Mädchen.

Susanne Englayer - Lucas (Roman)Harmlos beginnt Susanne Englmayers Geschichte „Camouflage“, um unvermittelt und drastisch die Perspektive zu wechseln vom Idylle konservierenden Spiel hin zum realen Kriegsgeschehen eines Familienlebens, das im Spiel auf der Sommerwiese nicht vorkommt.

Ich erinnere mich an eine Kindheitsfreundin, die ich sehr mochte. Auch sie wollte immer Familie spielen. Sie nannte es allerdings anders: Lass uns Ehekrach spielen! Dabei leuchteten ihre Augen. Sie lebte allein mit ihrer Mutter. Ich sollte sie lieber nicht zum Geburtstag einladen, meinte meine Mutter. Sie sei so ungezogen, so laut. Wenn wir spielten, schrie sie mich an. Ich wollte sie eigentlich immer umarmen. Aber, so muss sie wohl gemeint haben, das kommt in Familien nicht vor. In den von Susanne Englmayer geschilderten sicher nicht. In denen ist der Krieg alltägliche Realität.

Unter der Überschrift „selbst bewußtsein“ schreibt die Autorin:

‚over the bones‘ will nicht viel, nur ein paar geschichten erzählen, auf die eine oder andere art. dabei wird kaum aufwand betrieben, wenig überarbeitung im vorfeld und noch weniger korrektur in der nachbearbeitung. tipfehler und grobe unstimmigkeiten erlaube ich mir allerdings jederzeit abzuändern.

ist es also literatur? oder nur gerede, geplauder? wir werden sehen.

Gerede, Geplauder? Sowas macht keine Gänsehaut. Aber soll sie nur weiter „plaudern“. Camouflage ist nicht die einzige lesenswerte Geschichte auf diesem Autoren-Blog, das also ganz schnell „Auf die Rolle“ kommt.

PS: Nein, ich bin noch nicht am Ende mit Pablo Neruda

Gut bewahrt

13. März 2007

Feet and Balls in Light - © 2007 ~v1ntage@deviantart.com

Unterm Teppich bewahrst du
mein zerrissenes Foto
und knetest
auf deinen Wegen
von Tür zu Tür
auf dass auch ja nichts vergehe
mein hartes Herz

© Benjamin Stein (2007)

••• Frau Schimmerschnecke, bei der ich mir immer wieder gern ein Stück Erinnerung an „Sex and the City“ hole, hat ein Foto zerrissen. Unterm Teppich plaziert, sei das ein grossartiges Mittel gegen Liebeskummer.

Da fiel mir grad eben diese kleine Erwiderung ein…

PS: Um Missverständnissen vorzubeugen. Frau Schimmerschnecke und ich sind uns im 1st Life vollständig unbekannt.

Die Nacht des Soldaten

13. März 2007

Pablo Neruda

Ich lebe die Nacht des Soldaten, die Zeit des Mannes ohne Schwermut, ohne Untergang, des vom Ozean oder einer Woge in die Ferne geworfenen Sinnbilds, und der nicht weiß, daß das bittere Wasser ihn abgesondert hat und daß er allmählich und furchtlos altert, ausersehen für das normale Leben ohne Erschütterungen, ohne Abwesenheiten, in seiner Haut und seinem Kleid dahinlebend, wahrhaft dunkel. So also werde ich mit dummen und fröhlichen Kameraden zusammen gesehen, die rauchen und spucken und entsetzlich saufen und plötzlich todkrank zusammenbrechen. Denn wo sind Tante, Braut, Schwiegermutter und Schwägerin des Soldaten? Wahrscheinlich gehen sie an Ostrazismus oder an Malaria zu Grunde und werden kalt und gelb und wandern aus nach einem Gestirn aus Eis, nach einem jungen Planeten, um endlich auszuruhen, unter jungen Mädchen und glazialen Früchten, und ihre Leichen, ihre armen Leichen aus Feuer werden fern der Flamme und der Asche schlummern, von Alabasterengeln bewacht.


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Amor América (1400)

12. März 2007

Pablo Neruda (1966)

Vor Perücke und Seidenfrack
waren die Ströme, Ströme arterienhaft,
waren die Kordilleren, auf deren kahler Welle
der Kondor und der Schnee unbeweglich schienen:
war die Feuchte und das Dickicht, der noch
namenlose Donner, die Planetensteppen.

Erde war der Mensch, Gefäß, Lidschlag
des zitternden Lehms, Gebild aus Ton,
war karibischer Krug, Chibcha-Stein,
kaiserlicher Pokal oder araukanischer Kiesel.
Zart und grausam war er, aber in den Knauf
seiner Waffe, aus benetztem Kristall
waren eingezeichnet
der Erde Initialen.
der Erde Initialen.Niemand vermochte
später sich ihrer zu erinnern: der Wind
vergaß sie, die Sprache des Wassers
wurde verscharrt, die Schlüssel gingen verloren
oder wurden von Schweigen überflutet oder Blut.

Nicht verloren ging das Leben, hirtenhafte Brüder.
Doch einer wilden Rose gleich
fiel ein roter Tropfen ins Dickicht,
und eine Erdenlampe erlosch.

Ich bin hier, der Geschichte Lauf zu erzählen.
Vom Steppenfrieden des Büffels
bis zu den gepeitschten Gestaden,
wo die Erde endet, in den angehäuften
Schäumen des antarktischen Lichts
und in den steilabstürzenden Felshöhlen
des düsteren venezuelischen Schweigens
suchte ich dich, mein Vater,
junger Krieger aus Dunkelheit und Kupfer,
oder dich, bräutliche Pflanze, Haarflut unbändig,
Kaimanenmutter, metallische Traube.

Ich, Inkamächtiger des Schlammes,
rührte an den Stein und sprach:
Wer
erwartet mich? Und preßte die Finger
um eine Handvoll tauben Kristalls.
Aber zwischen Zapotecablüten schritt ich,
und sanft wie ein Edelwild war das Licht
und der Schatten ein grünes Augenlid.

Du mein Land ohne Namen, ohne Namen Amerika,
der Äquinoktien Blütenfaden, Purpurlanze,
dein Duft klomm auf zu mir durch die Wurzeln
bis zur Schale, die ich leerte, bis zum zartesten
Wort, noch ungeboren von meinem Mund.

Pablo Neruda


Pablo Neruda spricht: Amor América (1400)


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Turmsegler-Podcast

11. März 2007

Turmsegler Podcast••• Auch das noch! Der morgen geplante Beitrag hat mich auf eine Idee gebracht. Warum sollte der Turmsegler nicht auch einen Podcast haben? Gedacht, getan. Per Klick auf das Feedburner-Symbol kann man den Podcast abonnieren.

Ich habe nun nicht vor, jeden Tag die Beiträge auch in den Podcast zu sprechen. Zunächst soll es ein Test sein, ob an einem solchen Angebot überhaupt Interesse besteht. Immerhin bin ich kein ausgebildeter Sprecher, und man sollte ja bei dem bleiben, was man leidlich beherrscht. Fühlt Euch also eingeladen, Kommentare zu hinterlassen, ob ihr mit einem Turmsegler-Podcast etwas anfangen könnt und was in den Podcast aufgenommen werden sollte.

Von Menschen und Sternen

11. März 2007

Darstellung der Gefiederten Schlange am Tempel des Quetzalcoatl in Teotihuacán

„Was beunruhigt dich, Vater Quetzalcóatl? Welcher Stern am Firmament bewegt sich nicht so, wie du es berechnet hast?“

„Es sind nicht die Sterne, die mich gegenwärtig beunruhigen, Tatle; die Menschen sind es. Die strenge Schönheit der Gestirne hatte sie mich vergessen lassen. Sie ziehen eine feste Bahn, deren Gesetz sie befolgen und das wir nur erkennen müssen, um zu wissen, wie sie sich weiterhin bewegen werden; aber die Menschen richten ihr Verhalten nicht nach feststehenden Gesetzen aus. Ich kann mit meinen Schnüren und Zahlen nichts berechnen. Wir leben auf einem Stern, der eine regelmäßige Bahn durchläuft; aber die Menschen, die auf ihm steuern, verfahren ganz nach Lust und Laune. Jetzt wollen sie dies und morgen das. Heute schätzen sie gering, was sie gestern beunruhigte. Die einen lieben, und andere hassen; einige geben, und andere nehmen fort, und morgen ist es genau umgekehrt. Diese Welt schleppt bei all ihrer Regelmäßigkeit eine wirre Sphäre von Willkür mit sich.“

„Du hast recht“, stimmte Tatle zu. „Ich verstehe die Welt der Menschen nicht, obwohl ich selbst einer von ihnen bin. Häufig verstehe ich nicht einmal das, was in mir vorgeht. […]“

José López Portillo y Pacheco, aus: „Quetzalcóatl“
© Insel Verlag, Frankfurt am Main 1978

••• Es hat sich doch gelohnt, das Buch noch einmal zu lesen. Der grosse Zauber will sich nicht mehr einstellen, aber es blitzt doch hier und dort noch eine Ahnung davon auf. Wie kommt es, dass mir die Märchenerzähler der Azteken als die grösseren Dichter erscheinen? Sie berichten von Sternen, Menschen und Dingen. Sie dozieren nicht. Sie erzählen. Sie philosophieren nicht. Der Dichtung tut es nicht gut, wenn wir über die Dinge reden, statt von ihnen zu sprechen oder sie selbst sprechen zu lassen.