Brennende Geduld

20. März 2007

Antonio Skármeta: Mit brennender GeduldAm Abend des 4. September ging eine aufregende Nachricht um die Welt: Salvador Allende, der erste Marxist, der die Wahlen in Chile gewonnen hatte, demokratisch gewählt.

Innerhalb weniger Minuten war das Gasthaus der Doña Rosa krachendvoll mit Fischern, Frühlingsausflüglern, Schülern, die am nächsten Tag freihatten. Pablo Neruda war unter ihnen, als eine Art Statist; er hatte seine Wohnung verlassen, um den von weit her kommenden Telefonaten internationaler Agenturen zu entfliehen, die ihn interviewen sollten. Die Aussicht auf bessere Tage brachte Gäste dazu, das Geld mit lockerer Hand auzugeben, und Rosa wußte sich nicht anders zu helfen, als daß sie Beatriz aus ihrem Gefängnis befreite, damit sie eine Stütze bei der Arbeit hatte.

Mario Jiménez hielt sich in unvorsichtiger Entfernung. Als der Telegrafist aus seinem klapprigen Ford 40 stieg, um sich unter die Feiernden zu mischen, betraute der Briefträger ihn mit einer Mission, die sein Chef, in seiner politischen Hochstimmung, mit Wohlwollen entgegennahm. Es ging um eine Art Kuppeldienst: er sollte in einem günstigen Augenblick Beatriz zuflüstern, daß er sie in dem nahe gelegenen Schuppen mit den Fischereigerätschaften erwartete.

Der entscheidende Moment ergab sich, als der Abgeordnete Labbé in seinem Anzug, so weiß schimmernd wie sein Lächeln, überraschend das Lokal betrat und unter den Sticheleien der Fischer – „sácate la cola!“ – bis zu dem Tisch ging, an dem Neruda ein paar Gläschen trank, und mit Versaille-Geste zu ihm sagte: „Don Pablo, so sind die Regeln der Demokratie. Man muß verlieren können. Die Besiegten grüßen die Sieger.“

„Zum Wohl also, Abgeordneter“, erwiderte Neruda, bot ihm ein Glas Wein an und hob sein eigenes, um mit Labbé anzustoßen.

Die Gäste klatschten, die Fischer riefen: „Es lebe Allende!“ und dann: „Es lebe Neruda!“, und der Telegrafist überbrachte vorsichtig Marios Botschaft und berührte dabei mit seinen Lippen fast das sinnliche Ohrläppchen des Mädchens.

Sie ließ den Weinkrug stehen und band die Schürze ab, nahm ein Ei vom Tisch und ging barfuß im Licht der sternklaren Nacht zum Stelldichein.

Als sie die Tür zum Schuppen öffnete, konnte sie mitten unter den wirren Netzen den Briefträger erkennen, der auf einem Schuhmacherbänkchen saß, das Gesicht grell beleuchtet von dem orangefarbenen Schein einer Petroleumlampe. Mario seinerseits konnte, mit der gleichen Rührung wie bei der ersten Begegnung neben dem Fußballtisch, den kurzen Rock und die enge Bluse wahrnehmen. Gleichsam in Übereinstimmung mit seinen Gedanken hob das Mädchen das ovale, zerbrechliche Ei hoch, und nachdem sie die Tür mit dem Fuß zugestoßen hatte, führte sie es an ihre Lippen, senkte es auf ihre Brust und ließ es abwärts gleiten, indem ihre tänzelnden Finger der beweglichen Rundung folgten, und weiter zur Magengegend und zum Unterleib, knickte es vor ihrem Geschlecht, verbarg es im Dreieck ihrer Beine, dann nahm sie es unvermittelt in die Hand und heftete einen heißen Blick in Marios Augen. Er wollte aufstehen, aber das Mädchen hielt ihn mit einer Geste zurück. Sie legte das Ei an die Stirn, rollte es über die kupferfarbene Haut und über die Nase zu den Lippen und umschloß es mit dem Mund, hielt es mit den Zähnen fest.

In ebendiesem Moment wurde es Mario klar, daß die monatelang so getreulich ertragene Erektion ein Hügelchen war, verglichen mit dem Gebirge, das nun von ihm aufstieg, mit dem Vulkan und seiner ganz und gar nicht metaphorischen Lava, die sein Blut zum Sieden brachte, ihm den Blick trübte, selbst seinen Speichel in eine Art Sperma verwandelte.

Beatriz bedeutete ihm, sich hinzuknien. […]

Antonio Skármeta, aus: „Brennende Geduld“
© Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1985

••• Brennende Geduld – das ist der poetische Originaltitel eines Buches, das viele in Deutschland nur unter dem Buch-zum-Film-Titel „Il Postino“ oder auch „Der Postmann“ kennen. (Wie grausam können Verlage zu einem Autor sein, ihn eines solchen Titels zu berauben um des schnöden Cross-Marketing-Mammons willen!)

In brennender Geduld muss auch ich mich üben, und zwar so oft, dass mir dieser Begriff als geflügeltes Wort in den Stammwortschatz übergegangen ist. Aber das ist nicht der Grund, warum ich hier heute Skármeta zitiere. Auch Pablo Neruda ist nicht der Grund, lediglich der Anlass, handelt doch das Buch vom Briefträger des großen Dichters, der durch ihn die Welt der Metaphern kennenlernt, mit deren Hilfe er dann die schöne Beatriz umgarnt etc. pp.

Nein, das alles ist nicht der Grund. Nicht einmal der Sex ist der Grund, der hier ja vielleicht noch stattgefunden hätte, wenn ich weiter zu zitieren bereit gewesen wäre. Aber – um die erotische Szene geht es hier eben nicht. Und darauf will ich hinaus. Und deswegen müssen die geneigten Turmsegler-Leser schon selbst das Buch hernehmen, um herauszufinden, wie es hier weiter zur Sache ging.

Ich werde nur den letzten Satz des Kapitels verraten, bevor ich mich auf morgen vertage. Der letzte Satz des Kapitels gehört Beatriz, die ihn mit „heiserer Stimme“ spricht: „Es ist doch schon gekommen, du Dummer.“

neue bodenständigkeit zum anhören

19. März 2007

••• Heute mache ich mal schamlos Werbung, und zwar für die neue bodenständigkeit, die ja hier schon einmal ausführlich erwähnt worden ist. Am 14. April wagen sich die Autoren dieses Gemeinschaftsblogs in Berlin aufs Lesepodium. Ich werde leider nicht da sein. Berlin? Ja, wo ist das denn? Nun, ich erinnere mich schon, aber es ist für mich doch etwas abgelegen und ausserdem an einem Samstag. Da habe ich diesmal das Nachsehen. Aber für die turmsegelnden Leser aus Berlin ist das sicher ein Event, das sich lohnt. Alles nähere erfahrt ihr » hier.

Ode an eine Uhr in der Nacht

18. März 2007

Lange 1 Werksansicht

An deiner Hand in der Nacht
wie ein Glühwurm schimmerte
meine Uhr.
Ich hörte
ihr Werk:
wie ein sprödes Geraun
von deiner unsichtbaren Hand
kam es her.
Da wandte sich deine Hand
zu meiner dunklen Brust,
meinen Schlaf und seinen Herzschlag aufzufangen.

Die Uhr
mit ihrer kleinen Säge
zerschnitt ohne Unterlass die Zeit.
Wie in einem Wald
fielen
Holzspäne nieder,
winzige Tropfen, Stückchen
Gezweig oder Nester,
ohne daß die Stille sich wandelte,
ohne daß die kühle Dunkelheit ein Ende fand,
also,
von deiner unsichtbaren Hand her, schnitt
die Uhr unaufhörlich
Zeit und Zeit,
und wie Blätter fielen
Minuten herab,
Fasern zerspellter Zeit,
winzige schwarze Federn.
Wie im Wald
roch es nach Wurzeln,
irgendwo ließ das Wasser
einen schweren Tropfen fallen
wie eine feuchte Traubenkugel.
Eine kleine Mühle
zermahlte Nacht,
summendes Dunkel
fiel nieder von Deiner Hand
und erfüllte die Erde.
Staub,
Erde, Ferne
mahlte und mahlte
von deiner Hand her
meine Uhr in der Nacht.

Ich schob
meinen Arm
unter deinen unsichtbaren Hals,
unter sein warmes Gewicht,
und in meine Hand
niederrieselte die Zeit,
Nacht,
winzig kleine Geräusche
von Holz und Wald,
von zerkleinerter Nacht,
von Schattensplittern,
von Wasser, das fällt und fällt:
Da
fiel der Schlaf
aus der Uhr und von
deinen schlummernden Händen,
fiel wie dunkles Wasser
der Wälder
von der Uhr
auf deinen Leib herab,
und von dir in die Lande,
dunkles Wasser,
Zeit, die fällt
und hinfließt
in unserm Innern.

Und so war jene Nacht,
Dunkel und Raum, Erde
und Zeit,
etwas, das fließt und fällt
und vorübereilt.
Also ziehen über die Erde
alle Nächte hin
und hinterlassen nur ein flüchtiges
schwarzes Arom,
es fällt ein Blatt,
ein Tropfen
auf der Erde,
ihr Klang verlöscht,
es schlummern Wald und Wasser,
die Wiesen,
die Glocken,
die Augen.
Ich höre dich, ja, du atmest,
meine Liebe,
Schlaf hüllt uns ein.

Pablo Neruda
Übertragung: Erich Ahrendt

••• Und jetzt – zum vorläufigen Abschied von Don Pablo – doch noch eine Ode.

Zu mechanischen Uhren hege ich eine innige Liebe. Sie sind etwas fürs Auge, fürs Ohr, für den Tastsinn. Sie sind kleine Maschinen mit der Anmutung von Leben. Und ihr rastloses Ticken wird immer den schöneren Klang abgeben als das sekundenweise Schlappen des Schrittmotors einer Quarzuhr. Solche Uhren sind einfach nicht poetisch, behaupte ich.

Oft lege ich meine Uhr auch nachts nicht ab, weil ich es zu gern mag, in den Sekunden des Hinübergleitens in den Schlaf dem Ticken zu lauschen, das mir versichert, dass die Zeit noch nicht stehengeblieben ist.

Das ist also – um genau zu sein – eine Ode an eine mechanische Uhr in der Nacht.

Gut Woch

17. März 2007

••• Aus gegebenen Anlass will ich heute an dieser Stelle etwas erklären und ein paar ganz kleine Regeln für den Umgang auf diesem Blog ankündigen.


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Kurz vor dem Regen

16. März 2007

laundry in the rain © 2007 by eunoia@deviantart.com

Gleich wird es regnen, nimm die Wäsche herein!
Auf der Leine die Klammern schwanken.
Ein Wolkenschatten verdunkelt den Stein.
Die Dächer sind voller Gedanken.

Sie sind gedacht in Ziegel und Schiefer,
gekalkten Kaminen und beizendem Rauch.
Mein Auge horcht den bestürzten Worten, –
o lautloser Spruch aus dem feurigen Strauch!

Ein Schluchzen beginnt in mir aufzusteigen.
Die wandernden Schatten ändern den Stein.
Ein Windstoß zerrt an den flatternden Hemden.
Gleich regnet es. Hol die Wäsche herein.

Günter Eich, aus: „Botschaften des Regens“
© Suhrkamp Verlag 1955

••• Wäsche, Regen und Schluchzen. Beim Lesen von „Walking around“ kam mir dieses Gedicht von Günter Eich in den Sinn. Daher ein kleines Abschweifen von den Lateinamerikanern.

Irgendwo habe ich mal gelesen, es gäbe die Eich-Fraktion und die Celan-Fraktion; und da gäbe es kein Zusammenkommen. Das kümmert mich gar nicht. Ich mag sie beide.

Schlüssel

15. März 2007

••• Seit gestern gibt es hier eine verschlossene Tür. Das ist der Eingang zur Blaubartburg. Sie soll bald geöffnet werden. Doch wenn dies geschieht, werden wir – wie Judith – vor sieben weiteren Türen stehen: neugierig, wissensdurstig. Und auch diese Türen werden verschlossen sein.


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über manuskripte

15. März 2007

1. wir ersticken an unverlangt eingesandten manuskripten.
2. ein unverlangt eingesandtes manuskript arbeitet gegen sich selbst.
3. enttäuscht eure illusionen.
4. misstraut verlagen.
5. findet eine bessere lösung.

••• KOOKbooks macht mit viel Idealismus sehr schöne Bücher mit hohem poetischen Anspruch. Die Website ist eher vorjahrhundrig, aber im Inhalt auch poetisch. Über diese bittenden Worte auf der Kontakt-Seite kann man lange nachdenken und viel diskutieren. Sie sind also sehr inspirierend. Von wie vielen Verlagswebseiten oder gar Verlagen selbst kann man das schon behaupten?

„findet eine bessere lösung.“ Na, Frau Verlegerin Seel, dann machen wir das einfach mal…