Meine Schwäche geht mit mir um

26. März 2007

Fortress by SirenniaStock@deviantart.com

Meine Schwäche geht mit mir um.
Sie duckt mich hinab zu den Straßensteinen
und läßt in verwunderten Krötenaugen
ihr Beigeselltes erstehen.
Niemand kauft mich dem los.
Entlegen schaukelt die Münze des Mondes
in viel zu schwarzen, zu mächtigen Wassern
für meine erstorbenen Finger.
Alles Gefühl wich aus ihnen zurück
und kauerte sich in den Handwurzeln nieder,
ängstlich, was ich befehlen werde
im Auftrag der Hoffnung.
Zitternd läutet mein Herz
den dreigeteilten heiligen Ton,
doch auf der Zunge liegt mir das Blei
des entschlossenen Schweigens.
Niemals will ich um Hilfe rufen.
Durch Straßensteine und Krötenaugen
folge ich meiner wütenden Schwäche
in die Festung des Vaters.

Christine Lavant
aus: Gedichte. Suhrkamp Verlag 1988
© Otto Müller Verlag Salzburg 1978

••• Je mehr ich wieder lese, desto öfter kehrt auch ein Gedanke wieder, der mir in den letzten Jahren nicht gefehlt hat und auf den ich gern verzichten würde. Der Gedanke nämlich, ob es nicht besser sei, es beim Schweigen und Lesen zu belassen. Wenn es nur ein Moment der Demut wäre angesichts dessen, was andere an Dichtung hervorgebracht haben, was schon gesagt wurde und wie… Aber es ist nicht Demut. Leider.

Die Entdeckung der Gedichte von Christine Lavant verdanke ich dem Turmsegler. Der Name war mir schon seit langem geläufig. Zum ersten Mal gehört hatte ich ihn von Charlotte Grasnick. Doch erst auf Empfehlung von Hans J. Hilbig aka Sturznest habe ich mir die von Thomas Bernhard besorgte und im Suhrkamp Verlag erschienene Auswahl gekauft. Was für Gedichte!

Der Eindruck hätte nicht grösser sein können, wenngleich meine Euphorie sich ein wenig relativiert hat, nachdem ich den ganzen Band mehrfach von vorn bis hinten und wieder zurück gelesen habe. Relativiert, ja. Aber davon ein anderes Mal mehr.

Abschied

25. März 2007

Nie war es schwieriger, Abschied zu nehmen, als jetzt.
Doch die Zeit, Lebewohl zu sagen, ist gekommen.

Sag den verbotenen Küssen adieu.
Gib deiner Angst zum letzten Mal die Hand.
Lass die Prinzessin noch einmal deinen Kopf ausgraben.
Schau ihr lang ins Gesicht und liebe ihr Haar und ihr Auge
und den stolzen Schwung ihrer Stirn.
Sieh noch einmal hinein in den Rachen der Kinderträume.
Gib dich noch einmal der Verlassenheit hin
und lass deinen Atem stocken
im Spinnenkessel der Nacht.

Du kannst das Loch nicht mit Wasser stopfen.
Kein Kuss macht den Hunger wett.
Atme aus und ein und öffne die Augen
und jage die Herzvagabunden davon.

Sag: Adieu, die Zeit ist gekommen.
Gib deiner Angst zum letzten Mal die Hand.

© Benjamin Stein (2007)
aus: „Ein anderes Blau“

••• Nach einigem Überlegen habe ich mich entschlossen, das „Blau“ ausschliesslich über die Tag-Seiten und RSS-Feeds zu bringen und hier mit dem Turmsegler-Programm ganz wie gewohnt fortzufahren. Eine Ausnahme allerdings will ich machen. Die Gedichte aus dem „Blau“ werde ich, wenn die Reihe an sie gekommen ist, auch hier bringen. Denn Lyrik ist schliesslich das vornehmliche Turmsegler-Thema.

Dieses Gedicht hat für mich eine besondere Bedeutung ganz jenseits des Themas. Es war, nach einer Pause von vielen Jahren, das erste Gedicht, das den Weg zu mir gefunden hat. Ich hatte mehrere Jahre als Journalist gearbeitet, zig Hundert Artikel produziert. An Literatur war nicht zu denken.

Dieses Gedicht entstand an einem Abend in Paderborn. Ich hatte eine Wochenschulung bei Siemens zu geben, am frühen Abend ein wenig zu Fuss die Innenstandt erkundet und sass im Hotel am offenen Fenster.

Und da war es plötzlich da und musste nur noch notiert werden. Und ich wusste: Es geht noch.

An diesem Abend schlief ich lange nicht ein.

Seelen am Ufer des Acheron

24. März 2007

Der Gedanke, dass ich einmal nicht traurig sein könnte, macht mir Sorge, und Sorge macht mir auch, eines Tages mein Gesicht im Spiegel zu sehen und zu wissen: Das bin nicht mehr ich, das sind nicht mehr meine Augen, ist nicht mehr mein Mund. Wo wird der Mensch sein, der mich dann noch erkennt? Mitunter gelingt es mir, einen Schmerz zu fühlen, der nicht der meine ist. Ich sehe einen Menschen an und erkenne sein Unglück als auf mich abstrahlend. Ich bin ganz eingekesselt von diesem Schein. Was tust Du da? Frage ich. Ich öffne einen Weg für dich nach unten, sagt die Gestalt.

Michael Perkampus, aus:
„Seelen am Ufer des Acheron“ (Roman)
© 2007 Edition Neue Moderne

••• Eine inspirierende Lektüre: poetisch, verstrickt, energiegeladen. Ich werde ausführlich darüber berichten, wenn mir neben der elektronischen Ausgabe auch das Buch vorliegt.

Den zitierten Absatz wollte ich mir an dieser Stelle öffentlich merken. Nachdem ich ihn gelesen hatte, legte ich das Script beiseite und war den Rest des Tages guter Dinge.

Ballade

23. März 2007

Er ging mit einer anderen vorbei,
und ich sah ihn gehn.
Samten der Wind,
im Frieden der Weg.
Meine armen Augen,
sie sahen ihn gehn!

Er liebt eine andere
im blühenden Land.
Der Weißdorn brach auf,
vorbei weht ein Lied.
Er liebt eine andere
im blühenden Land!

Er küßt eine andere
am Meeresstrand.
In den Wogen sank unter
weiß blühend der Mond.
Und mein Blut färbte nicht
die Weite des Meers!

Er wird mit der anderen
auf ewig gehn.
Heiter der Himmel.
(Gott hüllt sich in Schweigen.)
Er wird mit der andern
auf ewig gehn.

Gabriela Mistral
Übertragung: Albert Theile
© der Übertragung Luchterhand 1958

••• Dieses Gedicht erinnert mich an eine Schallplatte, die mir mein Grossvater vor vielen, vielen Jahren von einem Kuraufenthalt auf Kuba mitgebracht hat. Ich sehe noch genau das Cover vor mir, und habe noch die Boleros und Balladen im Ohr. An den Namen der Sängerin erinnere ich mich nur vage. Ich glaube, es war Miriam Ramos. Ich habe ja nichts verstanden, aber es muss pausenlos um Liebe gegangen sein in diesen Liedern.

Und das Gedicht erinnert mich auch an eine meiner liebsten CDs. Da singt Nina Simone einen Text von Jesse Mae Robinson:

The other woman finds time to manicure her nails
The other woman is perfect where her rival fails
And she’s never seen with pin curls in her hair

The other woman enchantes her clothes with french perfume
The other woman keeps fresh cut flowers in each room
There are never toys that’s scattered everywhere

And when her baby comes to call
He’ll find her waiting like a lonesome queen
‚Cos when she’s by his side
It’s such a change from old routine

But the other woman will always cry herself to sleep
The other woman will never have his love to keep
And as the years go by the other woman
Will spend her life alone

Ich würde das ja gern in den Podcast leiten; aber dann stehen gleich die bösen Anwälte der Musikindustrie auf der Matte…

Ein anderes Blau

22. März 2007

Ives Klein: Obsession de la lévitation (Foto: Harry Shunk)
Ives Klein: Obsession de la lévitation (Foto: Harry Shunk)

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Preß nicht meine Hände

22. März 2007

Preß nicht meine Hände!
Die Zeit wird kommen, die lang dauernde,
des Ausruhn´s mit viel Staub und Schatten
in den verflochtenen Fingern.

Du möchtest sagen: „Ich kann
sie nicht lieben, denn ihre Finger lösten sich schon,
wie aus der Samenhülle das Korn“.

Küß nicht meinen Mund!
Der Augenblick wird kommen, erfüllt
von erlöschendem Licht, da ich ohne Lippen
sein werde, auf nasser Erde.

Du möchtest sagen: „Ich habe sie geliebt,
aber ich kann sie nicht länger lieben, jetzt,
wo sie den Ginsterduft meines Kusses nicht mehr atmet“.

Ängstigen würde es mich, dich sprechen zu hören,
und du sprächest im Wahn und blind.
Denn meine Hand wird auf deiner Stirne ruhen,
wenn meine Finger brechen,
und auf dein Gesicht, gezeichnet von Sehnsucht,
wird sich mein Atem senken.

Daher berühre mich nicht. Lüge wäre es,
zu sagen, ich schenkte dir meine Liebe
in meinen ausgebreiteten Armen,
meinem Mund, meiner Stimme;
und du, wenn du glaubst, du hättest alles getrunken,
du täuscht dich wie ein einfältiges Kind.

Denn meine Liebe ist nicht nur die Garbe,
widerspenstig, ermattet, meines Leibes,
der erzittert, wenn das Büßerhemd ihn streift
und mir zurückbleibt bei jeglichem Flug.

Im Kuß ist nicht nur die Lippe,
und die Stimme nicht nur Echo der Brust:
Meine liebe ist Gottes Sturmwind, der meines Fleisches
Zweig mir im Fluge spaltet!

Gabriela Mistral
Übertragung: Albert Theile
© der Übertragung Luchterhand 1958

••• Mit zwei Gedichten von Gabriela Mistral habe ich diese kleine Reise nach Lateinamerika begonnen. Mit zwei Gedichten von ihr will ich sie auch – vorläufig – beenden. Ich muss sicher noch einmal zurückkehren, denn allzu viele mir wichtige Autoren sind noch nicht erwähnt: Márquez beispielsweise oder Asturias. Das wird nachgeholt werden. Aber es drängt mich jetzt, das Thema zu wechseln, weil ich eine grosse Entdeckung gemacht habe, die ich mit den Turmseglern teilen möchte. Noch aber ist es nicht so weit, und es gibt – heute und morgen – nochmals Gabriela Mistral.

Handwerker mit Marotte

21. März 2007

Antonio Skármeta••• In Berlin-Friedrichshagen, wo ich aufgewachsen bin, gab es zwei Biliotheken. Eine für Kinder und eine für Erwachsene. Die Kinderbibliothek lag prominent, direkt auf der Bölschestrasse, die zu früheren Zeiten einmal des Fritzen Seidenpromenade hinunter zum Müggelsee gewesen war. Sobald ich lesen konnte und mir die ABC-Bücher nicht mehr ausreichten, wurde ich dort angemeldet. Wir hatten es finanziell nicht so üppig; und bei meinem Lesehunger mussten es geborgte Bücher auch tun. Taten sie auch. Eine Zeit lang jedenfalls. Dann hatte ich mich wurmgleich durch die Bestände gefressen. Ich hatte auch für mein Alter etwas unpassende literarische Interessen. Kurz: Ich wollte in diese andere Bibliothek, die für die Erwachsenen, für die ab 18, die abseits lag, in einer Seitenstrasse unserer Prachtallee. Es gab da nur einen Haken: Ich war halt erst 12.

Meine Mutter hat aber gleich eingesehen, dass das keine Rolle spielen dürfe, und ist mit mir dorthin. Es hat sie einige Mühe gekostet; aber irgendwie führte dann doch ein Weg zum Ziel, und ich bekam den ersehnten Bibliotheksausweis und damit den Zugang zu dem durchaus guten Bestand dieser Bibliothek. Dort fand ich auch Antonio Skármeta, und zwar alle seine auf deutsch erschienenen Romane und Erzählungen, und ich habe sie mir der Reihe nach einverleibt.

Skármeta hat so eine persönliche Marotte. Die Vokabel tut ihm vielleicht unrecht. Aber ich empfinde es so. In (fast) jedem Roman gibt es – so circa um Seite 123 herum – eine explizite erotische Szene. Das hat mir als Pubertierenden die Lektüre der Romane bis hin zu diesem erzählerischen Meilenstein jeweils stark versüsst. Er hätte sich quasi alles erlauben können, sogar ganz furchtbar langweilig zu sein (was er nie war); ich hätte doch zumindest bis zu dieser Stelle durchgehalten.


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