Bondage

24. April 2007

Bondage © 2007 by ~JadedRed@deviantart.com
Bondage – © 2007 by ~JadedRed@deviantart.com

••• Passend zu den snowflake-Posts von gestern und vorgestern stosse ich heute unverhofft auf eine nicht-leibliche Turmsegler-Schwester – das Bondageprojekt. Das Projekt beschäftigt sich – man würde es vom Namen her nicht vermuten – mit deutscher Lyrik, wobei allerdings auch Katzen verarbeitet werden. Nun soll Dichtung freilich zu fesseln vermögen; der Name wurde jedoch nach Bekunden der anonymisierten Betreiber aus Marketinggründen gewählt, da das Suchwort „Bondage“ zu den am häufigsten bei Google eingegebenen gehöre.

Das lässt auf professionelles Vorgehen schliessen. Das Layout des Blogs und die Qualität des Podcasts lassen ebenfalls erkennen, dass da keine Gelegenheitsblogger am Werk sind. Das Konzept ist tatsächlich sehr Turmsegler-nah. Die vorgestellten Gedichte werden mit redaktioneller Prosa-Tonspur ergänzt, gut geschrieben und informativ. Der persönliche Touch, den ich für den Turmsegler wohl reklamieren kann, fehlt hingegen. Auch ist das Blog noch recht jung, und man sieht noch nicht wirklich das Potential, aus dem die Macher schöpfen.

Beobachten will ich das Projekt allein schon wegen der engen Verwandtschaft im Konzept. Also: Auf die Rolle damit.

Sein, oder nicht sein

24. April 2007

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Sein, oder nicht sein, das ist die Frage:
Ob’s mehr uns adelt wohl im Geist, die Pfeile
Und Schleudern wüsten Schicksals stumm zu dulden,
Oder das Schwert zu ziehn gegen ein Meer der Plagen
Und im Anrennen enden: sterben… – schlafen,
Mehr nicht; und sagen, daß durch einen Schlaf
Wir’s Herzweh enden und die tausend Lebenshiebe,
Die unserm Fleisch vererbt sind: ’s ist eine Erfüllung
Inbrünstig beizuwünschen. Sterben, schlafen,
Schlafen, womöglich träumen – ja, da hakt’s:
Denn in dem Schlaf des Tods, welch Träume kommen mögen,
Wenn man des Weltgeknäuls sich hat entfesselt,
Das gibt zu denken – das der Gesichtspunkt,
Der’s Elend derart langen Lebens macht.
Denn wer ertrüg der Mitwelt Spott und Peitsche,
Des Unterdrückers Unrecht, Hohn vom Stolzen,
Verschmähter Liebe Qual, Verzug des Rechts,
Die Dreistigkeit der Ämter, und die Tritte,
Die der Verdiente stumm vom Nichtsnutz hinnimmt,
Wenn er sich selbst quittiern könnt in den Ruhestand
Bloß mit ’nem dummen Dolch? Wer trüg sein Bündel,
auf daß er grunzt und schwitzt im Lebensjoch,
Wär’s nicht, daß Furcht vor etwas nach dem Tod,
Das unentdeckte Land, aus dessen Gauen
Kein Wandrer wiederkehrt, den Willen lähmt,
Und uns die Übel, die wir haben, lieber tragen
Läßt, eh wir hin zu unbekannten fliehn?
So macht Bewußtsein Memmen aus uns allen,
So wird die angeborne Farbe der Entschlußkraft
Siech überkränkelt von Gedankens Blässe,
Und Unterfangen großen Wurfs und Werts
Kehrn dieses Grunds halb ihre Schwungkraft seitwärts, und
Verlieren so den Namen „Tat“. […]

William Shakespeare, aus: „Hamlet“
Übertragung: Frank Günther

••• Am 23. April (nach gregorianischem Kalender dem 3. Mai) 1616 starb William Shakespeare. Ich habe es lange hinausgezögert, hier seinen Namen zu nennen. Aber irgendwann musste er doch fallen. Mit Shakespeares Werk verbindet mich eine Liebe, die so gross ist, dass alles hineinpasst: Verehrung wie Sentimentalität, Staunen wie – gelegentlich – auch Eifersucht.

Im Podcast vom Sonntag war vom Literarischen Colloqium in Berlin die Rede. Als ich noch in Berlin lebte, trieb es mich öfters dorthin zu einer der in der Regel hochinteressanten Veranstaltungen. Auf einer dieser Veranstaltungen stellte Frank Günther seine Shakespeare-Neuübersetzungen vor, die ich samt und sonders in der Reihenfolge ihres Erscheinens gekauft habe und zum ganz überwiegenden Teil sehr schätze.

Ich sammle nicht nur Shakespeare-Ausgaben, sondern auch Shakespeare-Verfilmungen. Die Interpretationen von Kenneth Branagh, in denen er in der Regel auch gleich noch die männlichen Hauptrollen spielt, sind unbedingt sehenswert.

Zum vierten Male teilst du mir mit

23. April 2007

Zum vierten Male teilst du mir mit
Daß du alle Brücken hinter dir verbrannt hast
Alle Briefe vernichtet, alle Behauptungen zurückgenommen hast
Dich in einem Taumel des Neuen befindest und
Diesmal endgültig.
Lieber hätte ich von dir gehört, du seist
Neuem auf der Spur, brauchtest aber Zeit
Seist gut gelaunt und freuest dich
Deiner guten Beziehungen.
Denn so sehe ich dich nur bald wieder
Am Bau neuer Brücken, Sammeln von Briefen und Aufstellen von Behauptungen
Müdigkeit des Alten, und wieder nicht endgültig.

Bertolt Brecht

••• Ich habe nicht die leiseste Ahnung, warum mir dieses Gedicht heute in den Sinn kam. Ausgerechnet heute. Ich habe keine Ahnung.

Das Gegenteil von Liebe

22. April 2007

Pod-z-Blitz Nr. 5••• Am 12. April war ich bei Michael Perkampus zu Gast. Am Wohnzimmertisch entspann sich ein inspirierendes Gespräch um Verlage, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Erzählens, Psychoanalyse und jüdische Mystik. Wir haben das Micro laufen lassen mit der vagen Vorstellung, am Ende einen Podcast zu schneiden. Michael hat sich die Heidenarbeit gemacht, die Essenz aus dem Gespräch zu ziehen, und er bringt heute das Ergebnis als 5. Sendung seines Podcasts Pod-z-Blitz.

Wenn schon von Psychoanalyse die Rede ist… Es mag verwundern, dass ich eine 12 Jahre alte Geschichte wie die Begegnung mit Günter Grass in solch emotionaler Deutlichkeit schildere. Dabei waren es nicht die Bemerkungen von Günter Grass, die damals beinahe mein Buch verhindert hätten. Es war die Kriecherei des Betriebs. Dummheiten geschehen. Uns allen. Aber sie sollten auch verjähren dürfen.

Die Geschichte meiner Begegnung mit Grass, nehme ich mir also vor, soll hier zum letzten Mal erzählt worden sein. Die Wirbellosigkeit des Betriebs im Umgang mit Autoren wird mich allerdings auch künftig leidenschaftlich aufregen, wo immer sie mir begegnen mag.

Anmerken möchte ich noch, dass „Das Alphabet des Juda Liva“ als Hardcover schliesslich bei Ammann in Zürich erschien, der als Verleger und Freund damals viel für mich getan hat. Bei dtv ist zwei Jahre später lediglich die Taschenbuchausgabe erschienen.

Pod-z-Blitz, Nr. 5 • Literarischer Podcast von und mit Michael Perkampus

Mädchen

22. April 2007

Ich will in meinem Bette ruhn und die Erde bedecken
Über den Ländern Europas und Afrikas liege ich da.
Meinen linken Arm will ich tief hinein nach Asien strecken.
Und den rechts nach Amerika.
Mein schlängelndes Haar wird im Nordmeer den Alk erschrecken.

Zischende Augen will in das weiche Dunkel ich bohren
Wie farbigen Stahl, der die kühle Haut verglüht und zerreißt,
Mit meiner Nacktheit leuchten dem, der die Straße verloren,
Der meine Stätte ungewiß suchend umkreist,
Und mich mit Schweigen verkleiden vor brüllenden Kehlen, versiegelten Ohren.

Mein bleiches Kissen: Eisberg, den Nacht umflutet.
Ich schmelze ihn hin mit dem Tropenstrauß meiner Hand,
Mit Irisblüten, golden und braunrot durchblutet;
Graubläuliche Otter hält sie leicht wie ein Band,
flüstert Wunder mir zu, die sie weiß und vermutet.

Und ein Wunder ist dies: es spritzen feurige Funken
Aus der Glut. Den Himmel brennt Mondnarbe, Sternenmal.
Und der Erde gereiftes Brot wird verteilt, ihr Wein wird getrunken.
Wasser scheint immer noch zart und wallend und fahl,
Hegt den stummen mächtigen Hai und das Läuten gelbbauchiger Unken.

Düster und Strahl sind um mich. So sind sie gewesen,
Da der Ägypter den Königen steinerne Gräber getürmt,
Noch die Sibylle ihre verkohlten Bücher gelesen,
Da erzürnte Harpyien das Mahl des Phineus umstürmt.
Da Juda die Götzenhäuser gefegt mit glänzendem Besen.

Nun verbergen Menschen die Bläue mit speienden Schloten,
Fürchten das Erdgespenst nicht mehr, den klagenden Wolf,
Schirren die Luft und fahren in steigenden Booten
Über Woge und Welt, spielen Tennis und Golf
Und schlafen dann hundert Jahre unter den Toten.

Wie der Sand, wie Flamme und Fluten, so unabwendlich,
Wie Wolke, so unentrinnbar bin ich.
Einst ziehen Kindesgeschlechter, fern mir und nicht mehr verständlich,
Horizonthin, versunkenen Sonnensterns blutheller Strich.
Mein Tag hat sein Maß, doch meine Nacht ist unendlich.

O Männer. Ihr mögt mit Maschinen rasen, tausend elektrische Lampen entzünden,
Ihr schwächt nicht die Faust, die euch zu mir reißt.
Mein Weiher und tiefes Lächeln liegt zwischen dämmrigen Schlünden,
Erwartet still euren neuesten, schwächlich geblähten, unbeständigen Geist
Und wirft eine Welle aus seinem Schoß; sie schluckt ihn samt seinen Gründen.

Kommt ihr mit tanzenden Tieren, mit dem Scherenschleifrad zur Stadt,
____seid Bürger, seid Grafen,
Füße laufen wie schneeweiße Ratten euch nach,
Laufen immer: Füße kupferhaariger Nächte im Hafen,
Wenn euer Schiff die grüne schaumkrallige Pranke zerbrach,
Sie lassen euch unter dem Südlichen Kreuz, dem Großen Wagen nicht einsam schlafen.

Die Liebkosung eurer Lippen, Gier eurer Hände
Sammle ich ein, und die Freude, die aus euren Augen schlägt,
In ein seidenes Vogelgarn, das ich trage an meiner Lende,
Wie das Känguruh seinen Beutel trägt.
Und ich füge die glühenden Stunden und finstere zu funkelnder Spende.

Goldflossige Fische schwimmen, lautlose Kiemen, in Bütten,
Die meine weiten Abende sind.
Und der Kometenregen will alles dies achtlos verschütten
Über ein Kind.
Es ist zart und ewig und nur wie die bräunlichen Kleinen schindelgedeckter Hütten.

Gertrud Kolmar, aus: „Gedichte“
Lizenzausgabe Suhrkamp Verlag 1996
© Kösel-Verlag, München 1980

••• Noch einmal Gertrud Kolmar mit einem Gedicht, das wohl am besten illustriert, was ich zuvor über sie schrieb. Seit Minuten klingt mir Patricia Kaas aus dem musikalischen Gedächtnis mit ihrer Interpretation von „It’s a Man’s World“.

This is a man’s world
This is a man’s world
But it would be nothing
Nothing without a woman or a girl

You see man made the cars
To take us over the world
Man made the train
To carry the heavy load
Man made the electric lights
To take us out of the dark
Man made the bullet for the war
Like Noah made the ark
This is a man’s man’s, man’s world
But it would be nothing
Nothing without a woman or a girl

Ein dumpfer Akkord

20. April 2007

Little Red Boat by Gimpy-Dexter@deviantart.com

Ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen: von der Leidenschaft des Schwebens, von jenen Augenblicken, in denen die Zeit stehenbleibt, damit das Herz ein paar Schläge aufholen kann.

Wenn der Löwe langsam über den Konzertflügel schleicht, müde, und mit seinem Schwanz über die Tasten wischt, ganz sorglos, ein dumpfer Akkord.

Wenn ein Mädchen am Morgen lächelnd die Augen aufschlägt und die Wand streichelt, an der sein Bett steht. Und ein Mann, dessen Mund vernäht ist, dennoch sprechen lernt durch seine Augen.

Wenn eine Wand zwischen zwei ungleichen Zimmern zum Ablegeplatz eines Bootes wird und sich zwei eine Rast verdienen vor der langen, letzten Ausfahrt über den See.

Ein anderes Blau, 3. Kapitel
» Inhaltsverzeichnis

••• Was man auf dieses Boot an Gepäck mit sich nimmt, bleibt einem für immer. Da heisst es auszusortieren. Im dritten Kapitel stehen Abschiede an, Auflösungen und Flugversuche, bevor das Boot schliesslich aus unserem Blickfeld entschwindet.

Morgen schon werdet ihr Staub sein

19. April 2007

Schuhberge im KZ Auschwitz

Wer aber leerte den Sand aus euren Schuhen,
Als ihr zum Sterben aufstehen mußtet?
Den Sand, den Israel heimholte,
Seinen Wandersand?
Brennenden Sinaisand,
Mit den Kehlen von Nachtigallen vermischt,
Mit den Flügeln des Schmetterlings vermischt,
Mit dem Sehnsuchtsstaub der Schlangen vermischt,
Mit allem was abfiel von der Weisheit Salomos vermischt,
Mit dem Bitteren aus des Wermuts Geheimnis vermischt –

O ihr Finger,
Die ihr den Sand aus Totenschuhen leertet,
Morgen schon werdet ihr Staub sein
In den Schuhen Kommender!

Nelly Sachs

••• Gertrud Kolmars Bild vom „Sand in den Schuhen Kommender“ hat Nelly Sachs zu verschiedenen Adaptionen inspiriert. Die vielleicht berühmteste Variation des Themas ist wohl diese hier.