das ende der jugend

1. Mai 2007

Rauhreif © 2004 by Jost Jahn

es kamen schwarze sommer bald und selten
rote sonnen – wolken waren gelbliches gewüchs
und lang vergeblich glaubte ich noch ich ertrügs
dächt ich mir heitre sommer über meine welten

und letztlich schwände dies mit den oktobern –
doch eines morgens war ein rauhreif in das laub gefressen
und ich erschrak vergaß mich – im vergessen
begann die kalte angst mich zu erobern

seitdem vergesse ich dem winter zu entkommen
versäum die pflicht die jeder tag mir auferlegt:
die sonnen die im sommer rot verglommen

zu bannen in mein wort für spätre zeiten –
schon ist die erde ganz von farben leergefegt
und schwärenhafte träume streifen in den weiten.

Wolfgang Hilbig, aus: „abwesenheit“
© S. Fischer Verlag (1979)

••• Auch vom grossen Dichter aus Sachsen, von dem hier und dort schon die Rede war, ein Sonett…

zehn zeilen

30. April 2007

Words © PostSecret.com

sieh mich an, sagt elli. ole sieht auf den stift in seiner hand. sieh mich an, sagt elli. ole sieht auf die leere seite im skizzenblock. sieh mich an, sagt elli. ole geht auf den balkon eine rauchen. elli geht am verteilerkasten vorm schulhof vorbei. am ende der sackgasse biegt sie rechts ab, setzt sich in die schaukel auf dem spielplatz und sieht der straßenbahn zu, wie sie anhält, licht in die nacht streut, die türen geschlossen läßt, weil niemand aussteigen will. sieh mich an, flüstert elli. aber die straßenbahn ruckt nur kurz und fährt weiter. dann steht ole neben dem efeuüberwachsenen zaun an der straßenecke. dann kommt er heran. dann legt er den ganzen sandkasten mit ellizeichnungen aus, und die rutschbahn und die wippe. dann kniet er im sand und sieht elli an. weil es ihr so wichtig ist. daß er sie ansieht: mit den augen.

„ansehen (für elli. und für ole)“
© Sudabeh Mohafez aka eukapirates

••• Sudabeh Mohafez‘ Texte habe ich kennengelernt, als ich auf der Suche nach Schlüsselversteckern war. Da war sie gerade mit Sack und Pack auf dem Weg von Portugal – ihrer Wahlheimat – nach Stuttgart, wo sie derzeit im „Schriftstellerhaus“ eine Schreibwerkstatt für Fortgeschrittene leitet. Zudem hat sie für das Sommersemester 2007 die Poetikdozentur an der Fachhochschule Wiesbaden übernommen. Den Schlüssel zu verstecken, das hat sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in Stuttgart dennoch gern getan; und ihr Schlüsselbeitrag war eine Rätselblumen-Kurzprosa auf ihrem Weblog „zehn zeilen“.

„zehn zeilen“, das ist das Programm dieses Weblogs: intensive Prosa von nicht mehr als zehn Zeilen mit dem Untertitel „eukapirates versucht sich an der kleinen form“. „zehn zeilen“ ist also ein Weblog für Prosa-Miniaturen, für Etüden, Übungsstücke. Schreibwerkstatt, Poetikdozentur und eine reglementierte Übungsform – das sagt einiges über die Autorin: Sie arbeitet, am eigenen und am Text anderer. Sie unternimmt Versuche und scheut sich nicht, sie auch so zu benennen. Das finde ich sympathisch.

Was mich an ihrer Prosa am meisten bewegt, ist die liebevolle Zuwendung zu allem und jedem, das in diesen Texten Erwähnung findet, seien es elli und ole, ein Kamel oder eine rote Koralle. Mit offenem Herzen geht sie auf Menschen und Dinge zu. Sie nimmt sie an. Sie sieht sie an. Sie scheint sie anzulächeln; und nahezu folgerichtig lächeln sie zurück. So macht sie Poesie selbst aus einer unangenehmen Situation, wie sie sie beispielsweise in „Schicklich“ beschreibt.

Anschauen, annehmen, lächeln. Damit ichs auch ja nicht wieder vergesse, kommen die „zehn zeilen“ flugs „Auf die Rolle“.

Die vitale Lektüre

29. April 2007

Ein Gastbeitrag von: Michael Perkampus

••• Iris Denneler sieht im Lesen einen Zeitverlust und einen Zeitgewinn, sieht das Lesen als Abhandenkommen von Welt und Versuch, sich darin zu versichern, als Suche nach Heimat und Lust zur Lektüre „ohne Gewähr“. Ich teile ihre Ansicht, dass der Autor in erster Linie Leser ist, wie es Peter Handke einmal formulierte und wie man es in Iris Dennelers Buch „Ungesicherte Lektüren“ dann auch zitiert finden kann.


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der tag geht hin in niemandes gewand

29. April 2007

Crow Jane © by aleksandra@deviantart.com

der tag geht hin in niemandes gewand
die wälder stehn bedrohlich schweigen dumpf
zu schwach die hand das hirn wie ausgebrannt
von liebe satt und alles denken stumpf

das große wort ging aus sich zu ermorden
die handvoll sterne war zu schnell verbraucht
gedanken kreisen nun in wilden horden
warn kaum idee und sind doch schon verraucht

was ich erdacht starb wirkungslos dahin
doch spreizte sich und gab sich aus für leben
es gab die zeit dem wort nur seinen sinn
und nahm ihn auch und machte es zu sand

der rabe kommt den letzten stoß zu geben
der tag geht hin in niemandes gewand

© Benjamin Stein (1988)

••• Meine erste bewusste Begegnung mit Sonetten hatte ich nicht bei Shakespeare sondern bei Brecht. Ich werde noch Beispiele bringen. Die strenge Form faszinierte mich; und ich wollte sie umgehend selbst erproben. Dieses Sonett war der erste Versuch. Es existieren noch weitere, die ich auch aufgehoben habe. Aber ich fürchte, der erste war auch der gelungenste Versuch.

Eine Änderung habe ich allerdings heute erst vorgenommen: Die letzten 6 Zeilen waren gemäß dem Reimschema auf zwei Terzette aufgeteilt, um der Formvorgabe auch wirklich gerecht zu werden. Das war vielleicht wichtig für einen Erstversuch. Heute darf ich da frei agieren und setze die drittletzte Zeile zum vorangehenden Terzett, wie es thematisch passt.

All dessen müd

27. April 2007

Tired with all these, for restful death I cry,
As, to behold desert a beggar born,
And needy nothing trimm’d in jollity,
And purest faith unhappily forsworn,
And guilded honour shamefully misplaced,
And maiden virtue rudely strumpeted,
And right perfection wrongfully disgraced,
And strength by limping sway disabled,
And art made tongue-tied by authority,
And folly doctor-like controlling skill,
And simple truth miscall’d simplicity,
And captive good attending captain ill:
Tired with all these, from these would I be gone,
Save that, to die, I leave my love alone.

All dessen müd, nach Rast im Tod ich schrei.
Ich seh es doch: Verdienst muß betteln gehn
Und reinste Treu am Pranger steht dabei
Und kleine Nullen sich im Aufwind blähn
Und Talmi-Ehre hebt man auf den Thron
Und Tugend wird zur Hure frech gemacht
Und wahre Redlichkeit bedeckt mit Hohn
Und Kraft durch lahme Herrschaft umgebracht
Und Kunst das Maul gestopft vom Apparat
Und Dummheit im Talar Erfahrung checkt
Und schlichte Wahrheit nennt man Einfalt glatt
Und Gutes Schlechtesten die Stiefel leckt.
All dessen müd, möcht ich gestorben sein,
Blieb nicht mein Liebster, wenn ich sterb, allein.

William Shakespeare, Sonett Nr. LXVI
Übertragung: Christa Schuenke
© der Übertragung Straelener Manuskripte Verlag 1994

••• Das Urteil von Literatur-Kritik, -wissenschaft und -betrieb war schon immer unfehlbar. Im Nachwort des zitierten Bandes gibt Manfred Pfister einen Abriss über die wechselvolle Rezeptionsgeschichte, die Shakespeares Sonette durchlebten, bevor sie schliesslich zu einer festen Grösse in der Weltliteratur erhoben wurden.

Zunächst verschwanden die Sonette in der Versenkung des öffentlichen Desinteresses. Im Jahre 1640 besorgte John Benson eine „normalisierte“ Ausgabe. „Normalisiert“ wurde dabei das Geschlecht des sweet boy. Aus dem Liebsten wurde also eine Liebste gemacht, damit die Briten nicht mit einem bi- wenn nicht gar homosexuellen Nationaldichter dastehen müssten. Am besten aber ist die Anmerkung des Herausgebers der Shakespeare-Werke George Steevens, der den Verzicht auf den Abdruck der Sonette in seiner Werkausgabe 1773 wie folgt begründet:

Wir haben die Sonette Shakespeares nicht nachgedruckt, weil auch das strengste Parlamentsgesetz nicht reichen würde, ihre Lektüre zu erzwingen. Hätte Shakespeare nichts anderes als sie geschrieben, er wäre so ruhmlos geblieben wie Thomas Watson, ein älterer und viel eleganterer Sonettdichter als er.

Warum fehlt meinem Vers moderner Schick?

26. April 2007

Why is my verse so barren of new pride,
So far from variation or quick change?
Why with the time do I not glance aside
To new-found methods and to compounds strange?
Why write I still all one, ever the same,
And keep invention in a noted weed,
That every word doth almost tell my name,
Showing their birth and where they did proceed?
O, know, sweet love, I always write of you,
And you and love are still my argument;
So all my best is dressing old words new,
Spending again what is already spent:
For as the sun is daily new and old,
So is my love still telling what is told.

Warum fehlt meinem Vers moderner Schick,
Erfindungsreichtum, Spannung, frischer Schwung?
Was schreib ich nicht, wie jeder heut, mit Blick
Auf rare Wörter, Stilerneuerung?
Was schreib ich bloß dasselbe früh und spät,
Beschreib den alten Hut auf alte Art,
Daß meinen Namen jedes Wort verrät
Und willig, wo es herkommt, offenbart?
Weil: liebster Freund, ich schreib allein von dir;
Liebe und du sind stets mein Gegenstand,
Den alten Wörtern leih ich neue Zier,
Verwende neu, was schon so oft verwandt.
Neu steigt die alte Sonne stets, wenn’s tagt.
Neu meine Liebe Altgesagtes sagt.

William Shakespeare, Sonett Nr. LXXVI
Übertragung: Christa Schuenke
© der Übertragung Straelener Manuskripte Verlag 1994

Shakespeare Sonette - Straelener Manuskripte Verlag••• Um über Shakespeares Stücke zu schreiben, muss ich erst einmal tief Luft holen und mich bedenken. Vielleicht wird es mir gar nicht gelingen. Da lasse ich mich einmal überraschen. Aber wenn wir schon bei Shakespeare sind, ist mir dies willkommener Anlass, auf ein Thema zu kommen, das ich mir schon lange im Turmsegler aufgefächert wünsche: Sonette.

Ich habe eine illustre Sammlung zusammengetragen, die ich den Turmsegler-Lesern nicht vorenthalten möchte. Und für einen Moment durchzuckte mich heute sogar der Gedanke, die vielen selbst schreibenden Leser dieses Blogs zu Sonetten anzustiften. Aber eins nach dem anderen. Erst einmal – doch nicht nur einmal – Shakespeare. Und dann wollen wir weiter sehen.

Was ist ein Geist?

25. April 2007

Was ist ein Geist?
Ein schreckliches Ereignis
das dazu verdammt ist
immer und immer wieder stattzufinden
Ein Augenblick des Schmerzes vielleicht
Etwas Totes, das für einen Moment
zum Leben zu erwachen scheint
Ein Gefühl, das in der Zeit erstarrt ist
Wie eine unscharfe Fotografie
Wie ein in Bernstein gefangenes Insekt
Ein Geist, das ist es, was ich bin.

Alfred Tennyson, Canto Nr. 28
aus: „In Memoriam“

Alfred Tennyson auf wikipedia.de••• Wieder einmal ist es spät geworden. Der Film heute abend versprach nicht eben, poetisch zu sein: „The Devils Backbone“ von Guillermo del Toro. Und wieder einmal wird in einem Film ein Gedicht zitiert, das mir nicht aus dem Kopf gehen will. Glücklicherweise waren Autor und Werk im Abspann vermerkt. Vielleicht hat jemand den Originaltext zur Hand und ist so freundlich, ihn in die Kommentare zu stellen. Ich habe das Gedicht lediglich von der Aufnahme transkribiert und keine Ahnung, wie der Text im Original aufgeteilt und interpunktiert ist.